Demokratien auf der ganzen Welt scheinen für eine wachsende Zahl von Bürgern an Attraktivität zu verlieren. Zum Teil lässt sich dieser Trend dadurch erklären, dass die Bürger immer weniger in der Lage zu sein scheinen, den Kurs, den ihre Gesellschaften eingeschlagen haben, auf der Grundlage substanzieller rationaler Überlegungen zu steuern. Blinde Modernisierungsprozesse – Rationalisierung, Bürokratisierung, Ökonomisierung, Globalisierung – scheinen außer Kontrolle geraten zu sein, was zu einem wachsenden Desinteresse an den politischen Institutionen führt, die diese Kontrolle ausüben sollten (Blokland 2006, 2011).

Viele der Debatten in den westlichen Sozial- und Politikwissenschaften und der Philosophie der letzten Jahrzehnte drehten sich um Begriffe wie Bürgerschaft, sozialer Zusammenhalt, Sozialkapital, Vertrauen oder Deliberation. Offensichtlich gibt es eine weit verbreitete Sorge über “abnehmende Demokratie” (Skocpol 2003), darüber, dass die Bürger immer weniger an sozialen und politischen Vereinigungen teilnehmen, dass die Bürger immer weniger von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozessen und Strukturen verstehen, und dass die Bürger immer empfänglicher für einfache Antworten auf komplizierte Probleme werden. Viele Fachleute sind der Meinung, dass wir dringend neue Wege finden müssen, um uns sinnvoll an sozialen und politischen Aktivitäten zu beteiligen und durch die Beteiligung unsere politischen Kompetenzen und politischen Gemeinschaften zu stärken. Mehr politische Kompetenz würde die Öffentlichkeit auch in die Lage versetzen, die zahlreichen Kommunikationsmittel, die darauf abzielen, ihre Meinung und ihr Verhalten zu beeinflussen oder zu manipulieren, richtig zu bewerten (Dahl 1950, 1989, 2000; Lindblom 1977, 1990; Wolin 1960; Bay 1965; Fishkin 1995, 2009, 2018; Putnam 1993, 2000; Gutmann und Thompson 2004; Dryzek 2005, Wolfe 2006).

Darüber hinaus sind viele Forscher der Meinung, dass die Bürger in unseren Gesellschaften viel mehr über normative oder philosophische Fragen diskutieren müssen. Welche Werte und Ziele sollten die derzeit ungehemmten Prozesse der Rationalisierung, Ökonomisierung, Bürokratisierung und Globalisierung bremsen oder lenken? Welche Werte, wenn überhaupt, definieren unsere gemeinsame Identität und wie sollten wir sie fördern? Auf der Grundlage welcher Werte und Ziele können die Bürger in immer vielfältigeren Gesellschaften friedlich zusammenleben? Haben die Bürger die Pflicht, sich über öffentliche Angelegenheiten zu informieren? Inwieweit sollte sich der Staat gegenüber unterschiedlichen Lebensformen neutral verhalten? Oder, ganz allgemein: Was verstehen wir unter einem guten Leben und wie sieht die gute Gesellschaft aus, die dieses Leben ermöglicht? Wie “grün” werden dieses Leben und diese Gesellschaft sein, und welche Folgen hat dies für die Werte und Bestrebungen, die lange Zeit im Mittelpunkt unserer Marktdemokratien standen? Zu lange haben wir Diskussionen über Grundlagen vermieden, auch weil wir befürchteten, dass diese nie zu einem tragfähigen Konsens führen und nur Konflikte schaffen würden, die eskalieren könnten. Die Vermeidung von Grundwertediskussionen war lange Zeit auch der Ratschlag einer nicht geringen Zahl von Politikwissenschaftlern (vgl. Blokland 2011: 40ff).

Wenn jedoch nicht über die Grundlagen gesprochen wird, entstehen Gesellschaften, die ihre eigenen Fundamente nicht kennen und verstehen, und folglich Gesellschaften, die letztlich nicht in der Lage sind, sich zu rechtfertigen und zu verteidigen. Darüber hinaus nährt diese Enthaltsamkeit politische Gemeinschaften, die nicht in der Lage sind, zu entscheiden, was wichtig und unwichtig ist, und zu entscheiden, in welche Richtung sie sich selbst lenken sollen. Wenn über diese grundlegenden Fragen nicht gesprochen wird, entstehen Gesellschaften, die blinden sozialen und wirtschaftlichen Strukturen und Prozessen ausgeliefert sind, die nur wenige verstehen, Gesellschaften, in denen versteckte und ungerichtete Ressentiments brodeln, Gesellschaften, die auseinanderfallen.

Gerade in politischen Gemeinschaften, die einem raschen Wandel unterworfen sind, besteht ein zunehmender Bedarf an der Diskussion und Benennung dessen, was die Menschen miteinander verbindet. Beispiele für solche raschen Veränderungen sind die Migration oder Flucht einer großen Zahl von Menschen und die daraus resultierende wachsende kulturelle Vielfalt in den Aufnahmeländern, rasche wirtschaftliche Veränderungen aufgrund von Globalisierung und technologischen Innovationen oder drastische Veränderungen des physischen Klimas und der Vulnerabilität. Auch ein großes politisches Projekt wie die Europäische Union braucht ein normatives Fundament, auf dem alles andere aufgebaut werden kann. Die Folgen des Fehlens dieses Fundaments und des Mangels an Diskussionen mit den Durchschnittsbürgern über die grundlegenden Werte und Ziele dieser Union sind im letzten Jahrzehnt nur allzu deutlich geworden und haben unter anderem zu populistischen Bewegungen geführt, die von antieuropäischen Gefühlen leben und diese fördern. Der Brexit war kein Einzelfall.

Um unsere Demokratien zu stärken, müssen wir neue Wege für eine sinnvolle Bürgerbeteiligung eröffnen und neue Strategien zur Stärkung der bürgerlichen und politischen Kompetenzen entwickeln. Wir müssen die soziale Integration und demokratische Beteiligung fördern und Populismus und Radikalisierung entgegenwirken. Die Bürgerinnen und Bürger sollen den Wahrheitsgehalt von Informationen und Kommunikation einschätzen können, die darauf abzielen, ihre Meinungen und Perspektiven zu formen. Die Bürger sollten in der Lage sein, ihre Regierungen dazu zu bewegen, eine Politik zu entwickeln, die fundierte Ideen und Ideale für ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft widerspiegelt. Wir müssen zu einer großen und authentischen Politik zurückkehren. Wir brauchen ein Konzept dafür, wie wir unsere Gesellschaften gestalten wollen und wie wir dieses Ziel erreichen können (Blokland 2011: 339ff).

1 Deliberation: was, warum und wie

Glücklicherweise erkennen nicht nur Politikwissenschaftler die Dringlichkeit einer Wiederbelebung der Demokratie. In zahlreichen Ländern wird diese Dringlichkeit zunehmend von verschiedenen politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Institutionen anerkannt. In Deutschland ist dies sicherlich der Fall. Ein Teil der Erklärung dafür liegt wahrscheinlich in der deutschen Geschichte und der daraus resultierenden Angst vor einer Aushöhlung der Demokratie. Auf jeden Fall konnte Social Science Works, oft mit Unterstützung deutscher und europäischer Geldgeber, eine Vielzahl von insbesondere deliberativen Projekten zur Stärkung der Demokratie durchführen. Über einige dieser Projekte und die dahinter stehenden deliberativen Ideen werde ich in diesem Artikel berichten.

Wir verstehen Deliberation als einen offenen und höflichen Austausch von Ideen und Werten, der die Entdeckung, das Verständnis, die Kontextualisierung und die Entwicklung von politischen Präferenzen fördert. In der heute vorherrschenden konsumentenorientierten oder ökonomischen Sichtweise auf die Demokratie sind die Ziele der politischen Partizipation vor allem die Umsetzung der Präferenzen des Einzelnen in kollektive Entscheidungen und Maßnahmen. Wie diese Präferenzen zustande gekommen sind, ob sie begründet sind und gerechtfertigt werden können, ob sie “politisch” in dem Sinne sind, dass sie öffentliche Belange von Gemeinschaften betreffen, sind Fragen, die selten gestellt werden. In deliberativen Auffassungen von Demokratie sind diese Fragen jedoch von zentraler Bedeutung. In der Deliberation geht es nicht in erster Linie um Individuen und ihre Organisationen, die für ihre Einzelinteressen kämpfen. Vielmehr geht es vor allem um die gemeinsame Entwicklung von begründeten Präferenzen in Bezug auf das Gemeinwohl.

Die Betonung des partizipativen und deliberativen Teils der Demokratie erfolgt in Wellen. Die Griechen waren wahrscheinlich die ersten in der westlichen Welt. Im letzten Jahrhundert widmete Robert Dahl in seinem Buch Congress and Foreign Policy (1950) dem Thema Aufmerksamkeit, wobei er auf eine erste Welle in den 1920er Jahren einging. In den 1960er Jahren griffen Theoretiker wie Sheldon Wolin (1960), Raymond Williams (1961), Lane Davis (1964), Christian Bay (1965), Graeme Duncan und Steven Lukes (1963), Carole Pateman (1970) und Jack Walker (1966) das Thema wieder auf, das daraufhin für fast drei Jahrzehnte wieder aus dem Mainstream verschwand (siehe Blokland 2011: Kapitel 2, 3 und 8). Ab den 1990er Jahren, beeinflusst durch den fast überall zu beobachtenden Rückgang der Unterstützung für die bestehenden demokratischen Strukturen, tauchten wieder vermehrt Studien zu alternativen, deliberativen Formen der politischen Partizipation und u.a. zu deren Auswirkungen auf die Teilnehmer auf. James Fishkin (1995), ein Doktorand von Dahl, wurde in diesen Jahren zu einem der wichtigsten Protagonisten.

Deliberation ersetzt nicht die bestehenden demokratischen Strukturen, sondern könnte eine wichtige Erweiterung dieser Strukturen sein. Während die bestehende politische Kommunikation zunehmend auf die Manipulation und Fabrikation von Präferenzen ausgerichtet ist, könnte Deliberation dazu beitragen, die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft zu verringern, indem sie neue Möglichkeiten bietet, in ein ehrliches Gespräch darüber zu kommen, was unsere Gesellschaften zusammenhält und was wir gemeinsam erreichen wollen. Deliberation könnte daher die Vorstellungen und Gefühle von politischer Gemeinschaft, Zivilisiertheit und Staatsbürgerschaft stärken, die Demokratien für ihr Gedeihen benötigen. Diese Vorstellungen und Emotionen wurden dadurch untergraben, dass die Demokratie zu sehr als eine Entscheidungsfindungsmethode (vgl. Schumpeter 1942) definiert wurde, bei der die Macht im Mittelpunkt steht und die Kandidaten dazu einlädt, mit allen möglichen Mitteln, einschließlich Manipulation und Betrug, Wählerstimmen zu sammeln. Deliberation könnte der Politik ein Stück Aufrichtigkeit, Zivilität und Substanz zurückgeben.

1.1 Formulierung von Entscheidungen, Ratschlägen oder Aufforderungen

Die direkten und indirekten Ziele der Deliberation hängen vom jeweiligen Kontext ab, ebenso wie die Anzahl der Teilnehmer und der Grad ihrer Informiertheit. Offensichtlich beeinflussen sich das gewählte Ziel, die angestrebte Anzahl der Teilnehmer und deren gewünschter Kenntnisstand gegenseitig. Es sind mehrere, sich teilweise überschneidende Ziele denkbar. Erstens könnte die Deliberation das unmittelbare Ziel haben, eine endgültige Entscheidung über ein bestimmtes Thema zu treffen. Dies könnte durch ein Referendum geschehen, an dem alle Wähler teilnehmen, oder durch eine Mini-Öffentlichkeit („mini public“) oder Bürgerversammlung, die diese Wähler vertritt. Diese Option kann beispielsweise gewählt werden, wenn das politische System über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage war, eine Entscheidung zu treffen, oder wenn es im Falle eines Referendums als wichtig erachtet wird, dass die Entscheidung von einer Mehrheit der Bürger und nicht nur von deren Vertretern getragen wird. Anstatt eine Entscheidung zu treffen, könnte die Mini-Öffentlichkeit auch gebeten werden, eine Empfehlung für eine Entscheidung zu formulieren. Im Falle einer landesweiten Angelegenheit könnte dieser Rat an das Parlament, die Regierung oder die Wähler in einem Referendum gerichtet werden.

Ähnlich wie bei einer Empfehlung können Deliberationen mit einer Aufforderung an die Behörden enden, politische Maßnahmen in bestimmten Bereichen zu entwickeln oder anzupassen. Social Science Works organisierte Deliberationen zur Gleichstellung der Geschlechter, die unter anderem einen solchen Appell zum Ziel hatten. In einem anderen Projekt, das von der Bundeszentrale für politische Bildung ermöglicht wurde, haben wir Gruppen junger Menschen in den ländlichen Regionen Brandenburgs und Sachsen-Anhalts eingeladen, eine Deliberation zu einem Thema zu organisieren, das sie selbst für wichtig hielten. Wir boten den Teilnehmern ein Training in Deliberation und der Funktion und Arbeitsweise von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivitäten an. Nach dieser Schulung beschäftigten sich die Gruppen etwa ein halbes Jahr lang mit dem Thema ihrer Wahl und kommunizierten über soziale Medien mit ihrem Publikum. Daraufhin konnten sie eine eintägige deliberative Veranstaltung organisieren, bei der die lokale Gemeinschaft und die Behörden aufgefordert wurden, Maßnahmen zu entwickeln oder anzupassen (Blokland 2021 und 2022; Neebe 2021).

Eine der Gruppen befasste sich beispielsweise mit der Frage, warum so viele junge Menschen ihre Gemeinde verlassen und wie die Kommunalverwaltung ihre Stadt attraktiver machen könnte, damit diese jungen Leute bleiben und die Lebensqualität für alle steigt. Eine andere Gruppe (“Meet over Meat”) befasste sich mit Themen, die eng mit dem Fleischkonsum zusammenhängen: Tierschutz, menschliche Gesundheit (wie viel Fleisch braucht der Mensch eigentlich, welche langfristigen Auswirkungen hat der Einsatz von Antibiotika in der Bioindustrie?), alternative Ernährung, Grundwasserverschmutzung, Treibhausgasemissionen usw. Für viele in Brandenburg war es eine überraschende Erkenntnis, dass eine einfache Reduzierung des Fleischkonsums einer der wichtigsten Beiträge zur Bekämpfung des Klimawandels sein kann.

Zweifellos würde die Aussicht, tatsächlich Einfluss zu nehmen, ja sogar endgültige Entscheidungen zu treffen, die Bürger erheblich motivieren, sich an Deliberationen zu beteiligen (vgl. Elster 1986). Bislang haben jedoch nur wenige politische Systeme ihren Bürgern diese Möglichkeit geboten. Meistens misstrauen auch Demokratien ihren eigenen Bürgern grundsätzlich. Das ist in Deutschland nicht anders, und schon gar nicht in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR).[1]

Deshalb ist es wichtig, den Teilnehmern an Deliberationen von Anfang an klar zu machen, was sie durch ihr Engagement erreichen können. In Frankreich wurde 2019, auch als Reaktion auf die Proteste der “gelben Westen”, eine Deliberation der Bürgerinnen und Bürger zur Klimapolitik ins Leben gerufen. Die Beteiligung stellte viele der 150 Teilnehmer zufrieden, aber die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der schließlich formulierten Vorschläge von der Regierung nicht angenommen wurde, verstärkte bei vielen das Gefühl, dass sie nicht gehört wurden (Courant 2021). Wenn man Menschen zur Teilnahme an Deliberationen einlädt, ist es daher von größter Bedeutung, sie klar und ehrlich über die Ziele dieser Treffen zu informieren. Das letzte Wort zu haben, ist nur eines der möglichen Ziele. Ein Ratschlag kann auch die Entscheidungsfindung oder die öffentliche Meinung beeinflussen. Und wenn sie nicht unmittelbar zu einer Entscheidung oder einem ernst zu nehmenden Ratschlag führt, kann Deliberation dennoch die Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger stärken, den Entscheidungsprozess innerhalb der bestehenden demokratischen Strukturen zu beeinflussen.

Im Mittelpunkt des Konzepts der Deliberation steht die Entwicklung begründeter Präferenzen. Wie viele Personen wir an einer Deliberation teilnehmen lassen wollen, ist daher unterschiedlich. Natürlich gilt: je mehr, desto besser. Da aber nicht jeder in der Lage oder bereit ist, die nötige Zeit, Energie und Opportunitätskosten zu investieren, müssen wir ein Gleichgewicht zwischen der Anzahl der beteiligten Personen und der Qualität oder Durchdachtheit der Entscheidung oder des Rates herstellen. Wenn wir ein Referendum zu grundlegenden und komplexen Fragen wie dem Beitritt oder dem Austritt aus der Europäischen Union, der Nutzung der Kernenergie oder der Einrichtung eines nationalen Gesundheitsdienstes für alle organisieren, streben wir wahrscheinlich die deliberative Beteiligung einer Mehrheit der Bürger an, die gemeinsam ein Mindestmaß an Einsicht in die jeweiligen komplexen Zusammenhänge entwickeln. Wenn diese Art der Beteiligung aufgrund mangelnder Ressourcen nicht möglich ist, wäre es vielleicht besser, gar kein Referendum abzuhalten. Stattdessen könnte man die Deliberation den Mitgliedern der Parlamente oder einer Stichprobe der Bevölkerung überlassen, die den gesamten Populus repräsentiert.

Alle Bürgerinnen und Bürger könnten sich im Prinzip an der Politik beteiligen, indem sie bei Wahlen ihre Stimme abgeben. Obwohl die Rationalität dieser Abstimmung, auch aufgrund der massiven Manipulationsversuche, nicht beeindruckend ist, ist es keine Option, Wahlen abzuschaffen. Dennoch könnte die Nachdenklichkeit der Stimmabgabe zum Beispiel durch die Einführung eines “Deliberation Day” erhöht werden. Ackermann und Fishkin (2004) haben für die Präsidentschaftswahlen in den USA eine solche Veranstaltung vorgeschlagen, an der alle registrierten Wähler teilnehmen sollten. Im ganzen Land würden die Bürger einen Tag lang in Gemeindezentren zusammenkommen, um in kleinen Gruppen über die wichtigsten Wahlfragen zu diskutieren. Erst nach diesen informierten Diskussionen würden sie ihre Stimme abgeben. Um die Teilnahme von weniger privilegierten Gruppen in unserer Gesellschaft zu fördern, würden die Menschen finanziell entschädigt, wie es auch im amerikanischen Jury-System üblich ist.

Ackermann und Fishkin haben diesen Deliberation Day vor fast zwei Jahrzehnten vorgeschlagen. Diese Art von Begegnungen zwischen Demokraten und Republikanern scheinen im heutigen amerikanischen Kulturkampf recht unwahrscheinlich. Vergleichbare Kriege haben sich in europäischen Demokratien wie England, Frankreich, Italien, Polen und Deutschland entwickelt. Dennoch zeigt diese traurige Tatsache nur, wie wichtig Deliberation geworden ist und wie lang der Weg ist, um zu einer Situation zurückzukehren, in der offene Gespräche zwischen Bürgern unterschiedlicher politischer Zugehörigkeit wieder denkbar sind.

1.2 Stärkung der politischen Gemeinschaft und des Zusammenhalts

Ein zweites, allgemeineres Ziel der Deliberation könnte die Stärkung der politischen Gemeinschaft sein, indem ein gemeinsames Verständnis der Werte und Ziele gefördert wird, die diese Gemeinschaft ermöglichen. Deliberationen im Vorfeld von Volksabstimmungen oder Wahlen können natürlich auch zur Verwirklichung dieses Ziels beitragen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ziel umso eher erreicht werden kann, je mehr Menschen sich an diesem Austausch beteiligen.

Zunächst wurde Social Science Works in die Lage versetzt, diese Art von Deliberation mit Migranten und Flüchtlingen durchzuführen. Die Behörden gingen davon aus, dass vor allem diese Menschen in die deutsche politische Gemeinschaft integriert werden müssen. Der Austausch über die Grundwerte des Gemeinwesens wurde als Schlüssel dazu angesehen. Es gibt aber überhaupt keinen Grund, dass nur Neuankömmlinge ein Bedürfnis nach Integration haben. Es war bezeichnend, dass viele deutsche Ehrenamtliche, die Flüchtlingen bei der Eingewöhnung halfen, bald feststellten, dass sie selbst Schwierigkeiten hatten, genau die Werte zu definieren und zu begründen, die die Regierung als konstitutiv für ihre politische Identität ansah. Daher ermöglichten Institutionen wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Social Science Works schon bald, Deliberationen auch für ehrenamtliche Helfer zu organisieren. Diese halfen ihnen, die Werte, die sie den Migranten und Flüchtlingen vermitteln sollten, wiederzufinden und zu verstehen. Andere staatliche Förderer folgten und unterstützten uns dabei, mit immer mehr Gruppen von Menschen zu reden.

Und so haben wir in einer Vielzahl von deliberativen Workshops versucht, gemeinsam, vor allem durch Fragen und Diskussionen, ein Verständnis für die zentralen Werte einer offenen, demokratischen Gesellschaft zu entwickeln: Was sind diese Werte, wie können sie verteidigt werden, wie hängen sie zusammen, wie können sie als ein verwobenes Muster von Werten und Einsichten über das (soziale und politische) Leben verstanden und begründet werden. Gemeinsam mit unseren Teilnehmern haben wir auch versucht, tiefer nach Präferenzen, Werten und Zielen zu graben, als es das tägliche Leben und die Kommunikation normalerweise erlauben.

Wir haben Hunderte von deliberativen Workshops und Veranstaltungen mit einer immer größeren Vielfalt von Teilnehmern organisiert: deutsche Durchschnittsbürger, Jugendliche, Schüler, Sozialarbeiter, Ehrenamtliche, Beamte, muslimische und nicht-muslimische Bürger, Langzeitarbeitslose, entfremdete und verärgerte Bürger mit rechtspopulistischen Sympathien und Flüchtlinge aus etwa zwanzig verschiedenen Ländern und mit vielen weiteren unterschiedlichen sozialen, kulturellen und religiösen Hintergründen. Diese Deliberationen erstreckten sich in der Regel über mehrere Sitzungen und konnten jeweils mehr als zwanzig Stunden in Anspruch nehmen. Wir diskutierten über Themen wie ethischen und politischen Pluralismus, Demokratie, Zivilgesellschaft, Freiheit, persönliche Autonomie, Toleranz und Respekt, Identität, Integration, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Gleichstellung der Geschlechter, Homosexualität, die gegenseitigen Ängste von Einheimischen und Neuankömmlingen, nachhaltige Entwicklung, die Pandemie der Einsamkeit in der westlichen Welt und die Frustrationen, Ängste und Hoffnungen der normalen Bürger (siehe Blokland 2017).

In einem von der Stadt Potsdam ermöglichten Projekt haben wir Vertreter der islamischen Religionsgemeinschaft, die sich um die örtliche Moschee versammelt haben, mit Menschen anderer Glaubensrichtungen zusammengebracht. An zehn aufeinanderfolgenden Sonntagnachmittagen untersuchten wir gemeinsam, inwieweit sich die Sichtweisen der verschiedenen Gruppen auf Werte wie Demokratie, Pluralismus, Freiheit, Toleranz, Gleichstellung der Geschlechter und Nachhaltigkeit voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede erwiesen sich als recht gering. Vor allem die örtlichen Imame schienen jedoch zu befürchten, dass Mitglieder ihrer Herde zu diesem Verständnis kommen würden (siehe Blokland und Neebe 2020).

1.3 Stärkung der politischen Kompetenzen

Ein drittes Ziel der Deliberation könnte die Förderung der politischen Kompetenzen der Bürger sein. Deliberationen können durchaus nützlich sein, um die Teilnehmer über ein anstehendes Thema zu informieren, vorausgesetzt, dass in unseren Demokratien noch genügend Einigkeit darüber besteht, was als plausible, nicht völlig voreingenommene Information angesehen werden kann. In dem Moment, in dem wir die Möglichkeit leugnen, Werte und Fakten in irgendeiner sinnvollen Weise zu erörtern, macht die ganze Idee der Deliberation natürlich keinen Sinn mehr. Abgesehen von einem gewissen Wissen über Politik und Gesellschaft im Allgemeinen und über das Thema, das auf der Tagesordnung steht, umfasst politische Kompetenz auch die Fähigkeit, Ideen und Werte so zu diskutieren, dass gegenseitiger Respekt und Verständnis gefördert und manchmal sogar Kompromisse und Vereinbarungen erzielt werden. Es ist eine oft beobachtete, deprimierende Tatsache, dass wir die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Meinungen und Ansichten umzugehen, verloren zu haben scheinen. Politische Meinungsverschiedenheiten sind zu Kulturkriegen zwischen intoleranten Stämmen geworden, die sich in ihren eigenen engstirnigen Wahrheiten verschließen. Deliberationen, die den Menschen die Kunst des Dissenses beibringen, scheinen erwünscht.

Der deutsche Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier hat es in einer vielbeachteten und offenbar für viele aufschlussreichen Rede in Hamburg so formuliert:

Manche verwechseln das Recht auf Meinungsfreiheit mit dem Anspruch darauf, dass auch alle anderen ihre Meinung teilen. Oder mit dem Recht, jede noch so absurde Behauptung müsse ernst genommen werden. Wer sich aber öffentlich äußert, muss natürlich mit der Überprüfung seiner Aussage rechnen und mit Widerspruch. Nur leider kommt diese Selbstverständlichkeit immer mehr abhanden. Vielleicht liegt das auch an jenen Medien, die wir uns angewöhnt haben, sozial zu nennen, und die heute zur Meinungsäußerung mehr und mehr benutzt werden. Auf demselben Gerät, mit dem ich ungefiltert meine Meinung in die Welt schicken kann, kann ich mit einer Fingerbewegung konträre Ansichten wegwischen. Das verführt zu einem Absolutheitsanspruch, der aber trügt. Denn Widerspruch und gegenteilige Ansichten kann man in der realen Welt eben nicht einfach wegschnippen. Man kann sie nur aushalten und im offenen Dialog argumentativ bestreiten. Was wir wieder neu brauchen, ist Streitkultur. Streitkultur billigt anderen zunächst lautere Absichten zu. Streitkultur erspart anderen keinen Widerspruch, aber sich selber auch keine Selbstkritik. Streitkultur fasst nicht mit Samthandschuhen an, aber lässt auch nicht die verbale eiserne Faust sprechen. Streitkultur öffnet nicht nur den eigenen Mund, sondern auch die eigenen Ohren. Streitkultur braucht den Wunsch, zu überzeugen und die Offenheit, sich gegebenenfalls auch selbst überzeugen zu lassen. Streitkultur braucht also beides: Mut und Gelassenheit. Wenn ich einen Strich drunter mache, dann gilt in meinen Augen folgendes: Wir haben kein Problem mit der Meinungsfreiheit. Wir haben ein Problem mit unserer Streitkultur. Wir müssen sie aufs Neue lernen.“[2]

In den letzten Jahrzehnten haben politische Parteien, religiöse Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen viele (aktive) Mitglieder verloren, und diese Gremien wurden nur unzureichend durch andere ersetzt. Infolgedessen haben die Menschen weniger Möglichkeiten, Informationen, Ansichten und Visionen auszutauschen und dementsprechend die informierten Präferenzen zu entwickeln, die wir brauchen. Der Spielraum für Parolen und Manipulationen sowie für politische Parteien, Organisationen und Führungspersönlichkeiten, die zu einfache Antworten auf immer kompliziertere Probleme geben, ist größer geworden. Immer weniger Bürgerinnen und Bürger lernen auch, mit Komplexität und mit abweichenden und gegensätzlichen Standpunkten umzugehen. Demokratie, die Fähigkeit, anderen zuzuhören, die eigenen Positionen zu bereichern und Kompromisse zu schließen, ist schwerer zu erlernen geworden.

In diesem Zusammenhang ist die Verbindung zwischen den Informationsträgern, Akademikern und anderen Fachleuten auf der einen Seite und den Bürgern auf der anderen Seite, weitgehend zerbrochen. Die Wissenschaftler verstecken sich in Elfenbeintürmen und suchen vergeblich nach universellen und ewigen Wahrheiten, und die Bürger ertrinken in den Blasen ihrer Facebook- und Instagram-Streams. Die Bürger sind immer weniger informiert, und jede unliebsame Information wird zunehmend als “Fake News” oder “alternative Fakten” definiert.

Deshalb brauchen wir neue Plattformen, auf denen wir wieder lernen können, zuzustimmen und zu widersprechen. In diesem Sinne hat Social Science Works Plattformen geschaffen, auf denen die Bürgerinnen und Bürger wichtige soziale und politische Fragen des Tages diskutieren können. In Städten wie Potsdam und Eisenhüttenstadt richteten wir sonntags oder mitten in der Woche zweistündige Treffen ein, bei denen die Bürgerinnen und Bürger nach einer 25-minütigen Einführung durch jemanden, der etwas mehr über das gewählte Thema wusste, mit Hilfe eines Moderators bei Kaffee und Kuchen über die Angelegenheit debattieren konnten. Wir haben uns bemüht, vor allem die Menschen einzuladen, die normalerweise nicht oft an solchen Treffen teilnehmen. Ein zusätzlicher Effekt dieser Treffen ist übrigens, dass sie einen von vielen Teilnehmern sehr geschätzten Beitrag zur Verringerung der Einsamkeit leisten, einer der größten Epidemien der heutigen Zeit, besonders in Ostdeutschland.

1.4 Förderung des Problembewusstseins

Ein weiterer wichtiger Beitrag, den Deliberation zur Demokratie leisten kann, ist die Förderung des Problembewusstseins. Es liegt auf der Hand, dass zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems zunächst ein Mindestmaß an Bewusstsein für dessen Existenz vorhanden sein muss. Dies ist sicherlich der Fall, wenn das Problem durch unsere tägliche Kommunikation und unsere Entscheidungen konstruiert, aufrechterhalten und reproduziert wird, und wenn dies, wie es oft der Fall ist, auf unbewusste, unbeabsichtigte und implizite Weise geschieht. Deliberation kann ein starkes Instrument sein, um dieses Bewusstsein zu fördern. In einer Deliberation hinterfragt man gemeinsam die Überzeugungen und Annahmen, die unseren Einstellungen, Präferenzen, Ansichten und Handlungen zugrunde liegen. Diese werden explizit gemacht und daraufhin bewertet.

Ein Beispiel dafür ist die Gleichstellung der Geschlechter. Wie bereits erwähnt, war dies eines der Themen, zu denen Social Science Works eingehende Deliberationen organisierte. Wie in vielen anderen Ländern sind auch in Deutschland die meisten der für die Gleichstellung der Geschlechter erforderlichen Gesetze erlassen worden, aber Frauen und Männer werden immer noch ungleich behandelt und nutzen ihre Fähigkeiten ungleich oder werden nicht in die Lage versetzt, sie zu nutzen. Das Problembewusstsein und die Kosten, die entstehen, wenn das Problem nicht erkannt wird, sind offenbar gering. Unterschiedliche Annahmen über Männer und Frauen sind tief in der deutschen Kultur verwurzelt und werden immer wieder auf alle möglichen Arten reproduziert. Deshalb müssen diese Annahmen, ihre Reproduktionen und ihre Folgen expliziert und bewertet werden. In unseren Deliberationen zum Thema Gender haben wir uns mit mehreren verwandten Themen beschäftigt: Wie groß sind die derzeitigen Ungleichheiten in den verschiedenen Lebensbereichen? Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Sind Veränderungen aus biologischer, historischer, soziologischer und politischer Sicht möglich? Was sind die persönlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kosten der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern? Welche Vorteile hätten Frauen, Männer, Kinder und Familien von weniger Ungleichheit? Welche gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse behindern den Abbau der gegenwärtigen Ungleichheiten? Welche Veränderungen brauchen wir in unseren Vorstellungen, in unserem täglichen Leben, in der Organisation unserer Gesellschaft und in unserer Politik, um mehr Gleichheit zu schaffen? Und welche Art von Unterstützung oder Politik erwarten wir vom Staat? (siehe Blokland 2019)

In einer idealen Demokratie würden sich alle Bürgerinnen und Bürger regelmäßig Zeit nehmen, um Themen wie diese eingehend zu diskutieren. In ihren Diskussionen würden sie Beiträge von denjenigen Experten erhalten, die mehr Zeit haben, über die fraglichen Themen nachzudenken. Die für die Lösung gesellschaftlicher Probleme erforderlichen Erkenntnisse könnten sich dann schneller verbreiten, als dies derzeit der Fall ist. Wir leben noch nicht in einer idealen Demokratie, aber wir könnten mit Experimenten beginnen, die das Ideal widerspiegeln würden.

In fast allen unseren Deliberationen mit verschiedenen Personengruppen haben wir über die Gleichberechtigung der Geschlechter gesprochen. Außerdem organisierten wir zweitägige Deliberationen mit verschiedenen Gruppen, in denen wir uns ausschließlich mit diesem Thema befassten. Zu Beginn der Deliberation haben wir die Teilnehmer zu den oben erwähnten Themen befragt. Auf diese Weise bekamen wir einen Eindruck von den derzeitigen Überzeugungen. In den folgenden Tagen diskutierten wir mit unseren Teilnehmern aktuelle Informationen zum Thema. Nach der Deliberation befragten wir die Teilnehmer erneut und untersuchten, inwieweit und in welche Richtung sie ihre Meinung geändert hatten und inwieweit sich ihr Wissen über das Thema verbessert hatte. Dies gab uns einen Hinweis darauf, wie die Bürger über dieses Thema denken würden, wenn sie erstmals eine informative, präferenzbildende Deliberation führen würden (vgl. Fishkin 1995, 2018). Es gab uns auch einen Hinweis darauf, welche Art von Deliberation wir brauchen, um die aktuellen Annahmen, Vorurteile, Präferenzen oder Ansichten besser mit dem in Einklang zu bringen, was wir bisher über das Thema in den relevanten akademischen Disziplinen gelernt haben.

Die Kraft der Deliberation zeigte sich in unseren Gesprächen über Gleichberechtigung: Die Diskussionen führten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer schnell zu verwandten, grundlegenden Themen wie der Definition von “Arbeit”, der gewünschten Entlohnung für verschiedene Formen von “Arbeit”, dem Platz und der Organisation von Arbeit in der Gesellschaft, der Familie und im Lebensverlauf sowie der Art und Weise, wie Unternehmen und andere Organisationen heute geführt werden – eine Art und Weise, die nicht selten Ausdruck männlicher Haltungen ist, die es für einige unattraktiv machen könnten, Spitzenpositionen anzustreben, und die Werte wie Solidarität, Verantwortung, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft untergraben.

Ein viertes Ziel der Deliberation könnte also die Förderung des Bewusstseins für ein Problem und seine möglichen Lösungen sein. Gender, Rassismus und soziale und politische Ungleichheit sind Beispiele für Themen, die eine öffentliche Deliberation erfordern. Ein weiteres ist die Nachhaltigkeit. Fragen zu den Ursachen und Folgen des Klimawandels und zu Verhaltensänderungen, die wirksam zur Bekämpfung der globalen Erwärmung beitragen würden, sind nicht immer leicht zu beantworten. Deliberation mit einer großen Anzahl von Bürgern, die als Multiplikatoren in ihren eigenen Gemeinschaften agieren, könnte die Verbreitung plausibler Antworten und die notwendigen Anpassungen individueller Verhaltensweisen und (politischer) Präferenzen unterstützen. Wie bereits erwähnt, organisierte in einem unserer Projekte eine Gruppe von Jugendlichen in einer brandenburgischen Stadt eine Deliberation zum eng verwandten Thema des Fleischkonsums. In ihren “meet over meat”-Kommunikationen auf Instagram machten sie deutlich, dass die Einschränkung des Fleischkonsums eine der effektivsten Möglichkeiten für den Einzelnen ist, seinen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Nicht viele Menschen schienen sich dessen bewusst zu sein.[3]

1.5 Vages Unbehagen in Probleme und Themen übersetzen

Ein weiteres, damit zusammenhängendes Ziel ist die Umsetzung eines diffusen Unbehagens in Probleme und Themen, die auf die öffentliche und politische Agenda gesetzt werden können. C. Wright Mills schrieb in The Sociological Imagination: “Anstelle von Problemen – definiert in Form von Werten und Bedrohungen – gibt es oft das Elend eines vagen Unbehagens; anstelle von expliziten Problemen gibt es oft nur das unbestimmte Gefühl, dass alles irgendwie nicht in Ordnung ist. Weder die bedrohten Werte noch das, was sie bedroht, sind benannt, kurzum, sie sind nicht zur Entscheidung gebracht worden” (1959: 18). Nicht anders als in den fünfziger Jahren sind die Bürger heute manchmal von der gesellschaftlichen Konstellation, in der sie sich befinden, überfordert. Sie haben Frustrationen, Beschwerden und Wut, aber es fehlt ihnen an einem klaren Verständnis ihrer Ursachen und ihrer möglichen Lösungen. Deliberation kann ein Instrument sein, um Klarheit in dieses vage Unbehagen zu bringen und den Menschen zu helfen, nach Themen oder Forderungen zu suchen, bei denen die Politik sinnvoll handeln kann.

In diesem Sinne haben wir uns in einem unserer Projekte an mehr als tausend ostdeutsche Bürger gewandt, die sich in den sozialen Medien sehr ablehnend und aggressiv über Flüchtlinge, die Presse und das aktuelle politische System geäußert hatten. Per Facebook-Messenger, E-Mail oder Telefon luden wir sie zu einer samstäglichen Deliberation in einem Hotel ein, um gemeinsam mit uns den möglichen tieferen Ursachen ihrer Frustration und Wut auf den Grund zu gehen (siehe Blokland 2017). Natürlich servierten wir gegen Mittag ein einfaches, aber nahrhaftes Essen aus der bürgerlichen Küche. In unseren Gesprächen unter anderem in Cottbus und Frankfurt an der Oder kamen diese Bürgerinnen und Bürger schnell zu dem Schluss, dass die Migranten, die 2015 in größerer Zahl in ihre Gemeinden gekommen waren, schon logischerweise wenig mit der Massenarbeitslosigkeit, den zerrütteten persönlichen Verhältnissen und der Zerrüttung lokaler Gemeinschaften zu tun haben konnten, die in Ostdeutschland nach der deutschen Einheit 1989 entstanden waren. Ihre Frustrationen hatten tiefere Ursachen, und ihre möglichen Lösungen lagen in anderen Bereichen, als ihnen regelmäßig vorgegaukelt wurde. Dies musste ihnen nur selten erklärt werden: Es genügte meist schon, die Beteiligten miteinander reden zu lassen, sich gegenseitig zu korrigieren und nur gelegentlich zu fragen: “Warum glauben Sie das?”

1.6 Information der Politik über die Erfahrungswelt der Bürgerinnen und Bürger

Ein letztes mögliches Ziel von Deliberationen, das eng mit dem oben genannten zusammenhängt, ist die Information der Politik über die Erfahrungswelt der Bürger. In den letzten Jahrzehnten sind Politik, Presse und auch die Wissenschaft immer wieder von den Ergebnissen von Wahlen und Referenden oder von plötzlichen Ausbrüchen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung überrascht worden. Es gibt viele Beispiele für solche Überraschungen und sogar Schocks: die Präsidentschaftswahlen 2016, die Donald Trump an die Macht brachten, das Brexit-Referendum 2016, der jüngste Aufschwung populistischer Parteien in der gesamten westlichen Welt oder die Massen wütender Bürger, die plötzlich mit regelmäßig eher unklaren oder diffusen Forderungen auf die Straße gehen. In Deutschland kann man an die sogenannten Wutbürger, die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA), denken, die 2014 und 2015 auf die Straße gingen, oder auch an die Proteste und Demonstrationen in den Jahren 2020 und 2021 gegen die staatlichen Maßnahmen gegen die laufende COVID-19-Pandemie.

Immer wieder tappten Politik, Presse und Wissenschaft weitgehend im Dunkeln, was die Beweggründe, Frustrationen und Beschwerden der Betroffenen betraf. Auffallend ist, dass es bis heute oft keine gründliche Recherche über die Hintergründe dieser Menschen gibt, was es auch für die Politik schwierig macht, sich mit deren Wut auseinanderzusetzen und einen nächsten Ausbruch zu vermeiden. Regelmäßig und unproduktiv werden die wütenden Bürger auf einen großen Haufen geworfen und als arbeitslos, ungebildet, uninformiert, gestört oder noch schlimmer – als Faschisten, Nazis, Antisemiten und Verschwörungstheoretiker wegdefiniert. Zweifellos kann man bei jeder Demonstration solche Leute finden, manchmal sogar viele von ihnen, aber oft ist das Bild nicht so eindeutig. Eine regelmäßige Deliberation mit den Bürgern, anstatt nur zu Wahlzeiten Reden vor den Wählern zu halten, könnte dazu beitragen, ein besseres Bild von ihren Erfahrungen, Hoffnungen, Ängsten, Sorgen und Beschwerden zu bekommen, und könnte die Ansammlung von Gefühlen verhindern, die irgendwann in Wut ausbrechen können.

In zwei unserer jüngsten Projekte für die Europäische Union haben wir mit rund 500 Schülern im Alter von 16 bis 18 Jahren über Europa gesprochen. Die Gespräche fanden in kleinen Gruppen an 20 verschiedenen Schulen in Berlin und Brandenburg statt. Wir nutzten eine (Mentimeter-)Umfrage, die per Handy auszufüllen war, so dass die Antworten sofort verfügbar waren und der Dialog entsprechend gestaltet werden konnte. Was wussten die Schüler über die EU, was hielten sie für ihre zentralen Werte und Ziele, welche Erwartungen hatten sie, was lief gut, was sollte verbessert werden? Im Anschluss an die Klassendiskussionen wählten die Schülerinnen und Schüler einen Vertreter, der die Ideen und Erwartungen seiner Klassenkameraden bei einem Treffen mit allen anderen Abgesandten sowie mit den neun Europaabgeordneten aus Berlin und Brandenburg diskutierte. Im Rahmen des Schulsozialkundeunterrichts verknüpften die Vertreter dann das Besprochene mit ihren Mitschülern. Auffallend war u.a., dass von der Europäischen Union viel größere Anstrengungen in so immateriellen Bereichen wie Umwelt, Kunst und Kultur, Demokratie, Menschenrechte, (nationale und internationale) Chancengleichheit und Solidarität erwartet werden. Vom Wirtschaftswachstum hatten wir inzwischen genug (siehe Blokland und Perrin de Brichambaut 2022; Neebe und Blokland 2023).

2 Abschließend: Deliberation und Pluralismus

Wenn das übergeordnete Ziel die Entwicklung von informierten Präferenzen oder Ideen ist, dann beruht Deliberation auch auf bestimmten Prämissen über das, was Wissen ist und wie wir es erlangen können (vgl. Blokland 2011). Unter dem Einfluss von Faktoren wie Postmodernismus, sozialen Medien und Populismus ist dies heute zu einem wichtigen Thema geworden. Die Anhänger der Deliberation glauben im Allgemeinen an die Plausibilität: Durch die Konfrontation verschiedener Standpunkte und verschiedener Methoden, um zu diesen Standpunkten zu gelangen, ist es wahrscheinlicher, dass man zu einer überzeugenden Position gelangt, die reich an empirischem und normativem Inhalt und vielleicht sogar an Weisheit ist. Wie in den Sozial- und Politikwissenschaften ist es besser, die Realität nicht aus der Perspektive eines bestimmten Paradigmas zu betrachten, sondern die Existenz, Konfrontation und gegenseitige Bereicherung einer Vielzahl von Positionen zu gewährleisten. Da es in der Regel mehrere plausible Sichtweisen zu einem Thema gibt, müssen in der Deliberation diese Perspektiven aufrichtig dargelegt werden.

Die Anhänger der Deliberation sind ansonsten weder Relativisten noch Skeptiker. Sie gehen davon aus, dass es ein Mindestmaß an Werten gibt, das universell wahrgenommen und verstanden wird; dass es immer möglich ist, das Gewicht, das man bestimmten Werten unter bestimmten Umständen zugewiesen hat, zu erklären und zu rechtfertigen; und dass man empirische Phänomene plausibel und intersubjektiv interpretieren kann. Keine Tatsache ist “hart”, “brutal” oder unanfechtbar. Dennoch haben wir Menschen mehr zu bieten als eine unendliche Anzahl von “alternativen Fakten”.

Diese pluralistischen Prinzipien haben Auswirkungen darauf, wie Deliberation praktiziert wird (siehe Blokland 2018). Im Zentrum der Deliberation stehen nicht Lehrer oder Experten, die eine einzige Wahrheit erklären. Stattdessen beinhaltet die Deliberation die Beteiligung einer Vielzahl von Stakeholdern und Bürgern, die unterschiedliche Perspektiven vertreten und jeweils bereit sind, ihre eigene Perspektive mit der anderer zu bereichern. Deliberation muss sicherstellen, dass all diese unterschiedlichen Standpunkte eine faire Chance haben, gehört zu werden.

Deliberation sollte eine Einladung sein, sich an der gesellschaftlichen Diskussion zu beteiligen. Um unsere Demokratie zu stärken, ist die Wiederaufnahme dieser Dialoge auf allen möglichen Ebenen sehr wesentlich. Die Ziele gehen dabei weit über die Entscheidungsfindung hinaus. Es geht um die Entwicklung einer pluralistischen demokratischen Kultur, deren Teilnehmer die Kunst verstehen, sowohl anderer Meinung zu sein als auch zuzustimmen.

Literatur

Ackerman, Bruce and James S. Fishkin. 2004. Deliberation Day. New Haven & London: Yale University Press.

Adviescommissie Burgerbetrokkenheid bij klimaatbeleid. 2021. Betrokken bij klimaat: Burgerfora aanbevolen. Den Haag.

Blokland, Hans. 2006. Modernization and Its Political Consequences: Weber, Mannheim, and Schumpeter. New Haven and London: Yale University Press. Link: https://hans-blokland.nl/modernization-and-its-political-consequences-weber-mannheim-and-schumpeter

Blokland, Hans. 2009. Een Lange Leegte: Over Maatschappelijk Onbehagen, Politieke Competentie en het Plannen van een Toekomst, Assen: Uitgeverij Klement. Link: https://hans-blokland.nl/een-lange-leegte-over-maatschappelijk-onbehagen-politieke-competentie-en-het-plannen-van-een-toekomst

Blokland, Hans. 2011. Pluralism, Democracy and Political Knowledge. London and New York: Routledge. Link: https://hans-blokland.nl/books/pluralism-democracy-and-political-knowledge

Blokland, Hans. 2017. Deliberation against Populism: Reconnecting Radicalizing citizens in Germany and Elsewhere. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2018. Wie deliberiert man fundamentale Werte? Ein Bericht aus Brandenburg über unsere Ansätze, Herangehensweisen und Erfahrungen. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2018. Radikalisierung Entgegenwirken: Was die Forschung uns Lernt. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2019. Was will eine Frau eigentlich? On discussing Gender Equality in Germany. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2020. Warum gab es eine Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland und nicht eine zwischen Nord und Süd? Reden über Diskriminierung, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie in Brennpunktschulen in Hamburg. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2021. Junge Bürger in Bernburg (Saale): Ich will hier weg! Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2022. Landjugend, politische Partizipation und soziale Medien: Erfahrungen aus einem Projekt in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans. 2023. Wissen Menschen was sie Wollen? Wie auf den wachsenden Rechtspopulismus zu reagieren ist. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans en Mirjam Neebe. 2020. Miteinander Reden? Erfahrungen mit der Potsdamer Moscheegemeinde. Potsdam: Social Science Works.

Blokland, Hans and Paola Perrin de Brichambaut. 2022. Unser Europa für alle – demokratische Partizipation junger europäischer Bürger:innen in Berlin und Brandenburg. Potsdam: Social Science Works.

Courant, Dimitri. 2021. The promises and disappointments of the French Citizens’ Convention for Climate. Deliberative Democracy Digest. June 9, 2021

Dahl, Robert A. 1950. Congress and Foreign Policy. New York: Harcourt, Brace and Company.

European Commission. 2020.  European capacities for citizen deliberation and participation for the Green Deal. (TOPIC ID: LC-GD-10-1-2020).

Fishkin, James S. 1995.  The Voice of the People:  Public Opinion and Democracy.  New Haven: Yale University Press.

Fishkin, James S. 2018. Democracy When the People are Thinking: Revitalizing our Politics through Public Deliberation. Oxford: Oxford University Press.

Lindblom, Charles E. 1990. Inquiry and Change: The Troubled Attempt to Understand and Shape Society. New Haven and London: Yale University Press.

Mills, C. Wright. 1959. The Sociological Imagination. Oxford: Oxford University Press.

Neebe, Mirjam. 2021. Junge Bürger*innen in Bernburg (Saale): Warum wollen sie weg? Potsdam: Social Science Works.

Neebe, Mirjam and Hans Blokland. 2023. Europa für alle. Bürgerinnen und Bürger deliberieren europäische Werte. Potsdam: Social Science Works.

Schumpeter, Joseph A. 1942. Capitalism, Socialism and Democracy (third impression). London: Unwin University Books, 1981.

Steinmeier, Frank-Walter. 2019. Eröffnung der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz. www.bundespräsident.de.

Williams, R. 1961. The Long Revolution. Harmondsworth: Penguin Books, 1984.

Wolin, Sheldon S. 1960. Politics and Vision: Continuity and Innovation in Western Political Thought. Boston: Little, Brown and Company.

Wolfe, Alan. 2006. Does American Democracy Still Work? New Haven and London: Yale University Press.

Anmerkungen

[1] Es ist anzumerken, dass fast alle von uns durchgeführten und hier erwähnten deliberativen Projekte von deutschen Bundesregierungen und Institutionen unterstützt wurden. Die staatlichen Institutionen in Brandenburg lehnten fast alle Vorschläge des SSW zur Durchführung von Deliberationen ab, oft mit erstaunlicher Abneigung.

[2] Eröffnung der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz 18 November 2019. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html

[3] Es ist ermutigend, dass inzwischen auch die Europäische Kommission in dieser Art von Deliberation ein wirksames Instrument sieht, um die Ziele ihres “Green Deal” zu erreichen: Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch und Null Netto-Emissionen von Treibhausgasen bis 2050. Der Aufruf zum Green Deal (LC-GD-10-1-2020) lautet wie folgt: “Es besteht Bedarf an einer aktiven Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf den Europäischen Green Deal in allen Phasen der Übergänge. Dies gilt insbesondere für komplexe Themen, bei denen unterschiedliche Ansichten oder Interessen auf dem Spiel stehen… Solche Themen können am besten durch partizipatorische Prozesse angegangen werden, an denen Bürgerinnen und Bürger aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft in ganz Europa beteiligt sind… Die Modalitäten partizipatorischer Prozesse unterscheiden sich je nach Zielen und erwarteten Ergebnissen, von der Nutzung der Vielfalt an Wissen, Erwartungen und Ansichten zur Verbesserung der Qualität des Wissens und zur Bereicherung der Beiträge zu politischen Diskussionen bis hin zur Schaffung von “Mini-Publics”, um die Arenen der öffentlichen Diskussion zu erweitern und die Repräsentativität politischer Entscheidungen zu verbessern. Damit diese Prozesse wirksam sind, sollten die Teilnehmer mit geeigneten Instrumenten und Informationen ausgestattet werden, sie sollten eng mit den Entscheidungsgremien verbunden sein … und sie sollten in die Lage versetzt werden, zu reflektieren, zu deliberieren und Veränderungen auf systemischer Ebene vorzuschlagen.”

Leave a Reply

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.