Die politische Partizipation junger Menschen im Allgemeinen und die von Jugendlichen in ländlichen Gebieten im Besonderen wird oft als nicht optimal kritisiert. Folglich sind sie in der Politik unterrepräsentiert, was sich wiederum darauf auswirkt, inwieweit ihre Interessen und Werte in der öffentlichen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Das kann sie auf lange Sicht teuer zu stehen kommen: kein bezahlbarer Wohnraum und Klimawandel sind nur zwei Folgen.

Im Herbst 2019 startete Social Science Works ein Projekt, um zu versuchen, junge Menschen in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands für Politik zu begeistern. Dies geschah durch eine stärkere Orientierung an ihr (angenommenes) Lebensumfeld. Die angebotene Teilnahmemöglichkeit war praxisorientierter, zeitgebundener, stärker auf ein konkretes Ereignis ausgerichtet und interaktiver. Darüber hinaus wurde Instagram, ein bei vielen jungen Menschen beliebtes Kommunikationsmittel, genutzt. Ermöglicht wurde das Projekt durch die Bundeszentrale für politische Bildung.

Insgesamt haben wir vier Gruppen mit jeweils acht bis 15 Jugendlichen im Alter von 15 bis 20 Jahren in ländlichen Regionen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt gebildet. In den anschließenden Workshops haben wir gemeinsam mit den Teilnehmenden über die Grundwerte nachgedacht, die unsere Gesellschaften zusammenhalten – Demokratie, Pluralismus, Freiheit, Staatsbürgerschaft, Gleichheit, Respekt – und darüber, wie diese Werte erfolgreich gefördert werden können. Darüber hinaus vermittelten wir Wissen über die Funktionen und Arbeitsmethoden von Organisationen der Zivilgesellschaft. Dazu gehörte auch die Frage wie soziale Medien für die politische Beteiligung genutzt werden können. Nach diesen Aktivitäten befassten sich die Gruppen etwa sechs Monate lang mit einem selbst gewählten Thema. Sie versuchten auch, über soziale Medien ein Publikum für ihr gewähltes Thema zu gewinnen und zu informieren. Geplant war, das Ganze mit einer deliberativen Sitzung von 50 bis 200 Teilnehmern abzuschließen, die von jeder Gruppe zu ihrem eigenen Thema organisiert wurde. Leider haben die Corona-Maßnahmen letzteres schließlich unmöglich gemacht.

Die Theorien und Praktiken der Deliberation spielen in unserer Arbeit eine zentrale Rolle. Wir verstehen Deliberation in erster Linie als einen offenen und höflichen Austausch von Ideen und Visionen, der die Entdeckung, das Verständnis, die Kontextualisierung und die Entwicklung politischer Präferenzen fördert. In der heute vorherrschenden konsumistischen oder ökonomistischen Auffassung von Demokratie besteht der Hauptzweck der politischen Beteiligung darin, die Präferenzen oder Interessen des Einzelnen in kollektive Entscheidungen und Maßnahmen umzusetzen. Wie diese Präferenzen zustande kommen, ob sie fundiert und begründbar sind, ob sie “politisch” sind, weil sie sich auf öffentliche Themen beziehen, sind Fragen, die selten angesprochen werden. In deliberativen Demokratiekonzepten stehen diese Fragen jedoch im Mittelpunkt.

In diesem Artikel berichte ich über unsere Erfahrungen. Es werden verschiedene Themen erörtert: die Nutzung sozialer Medien zur Anwerbung junger Teilnehmer für politische Aktivitäten; die Bedeutung lokaler Vertrauenspersonen; die Eignung sozialer Medien für die soziale und politische Kommunikation mit und zwischen jungen Menschen; die Möglichkeiten von Zoom oder anderen Videoplattformen zur Durchführung politischer Bildung und Aktivitäten; die Inhalte unserer politischen Bildung; die von den Gruppen als wichtig erachteten Themen; und die Motivationen der Teilnehmer.

1 Rekrutierung der Gruppen über soziale Medien

Junge Menschen kommunizieren in hohem Maß über soziale Medien, und es bestand die Hoffnung, dass junge Menschen über diese Medien für eine politische Beteiligung gewonnen werden könnten. Darüber hinaus hofften wir, dass junge Menschen die sozialen Medien, insbesondere Instagram, nutzen könnten, um ein Publikum für ihr politisches Thema zu schaffen und die Diskussionen zu organisieren. In beiden Bereichen waren die Ergebnisse enttäuschend.

Um mit der Rekrutierung von Gruppen zu beginnen: Wir haben zunächst über Facebook, Instagram, Twitter und unsere Website ausführlich über unser Projekt berichtet und interessierte Menschen (einschließlich Sozialarbeiter und Lehrer, die uns mit jungen Menschen in Kontakt bringen könnten) gebeten, sich uns als Teilnehmende anzuschließen. Trotz der relativ hohen Zahl von Followern und Besuchern unserer Medienkanäle hat dies keine nennenswerte Resonanz hervorgerufen. Anschließend haben wir drei bezahlte Werbekampagnen auf Instagram und Facebook durchgeführt, um interessierte junge Menschen in Sachsen-Anhalt zu finden. Zu diesem Zweck wurden eigens von Studenten entwickelte Flugblätter verwendet.

Eine Instagram-Anzeige im März 2021 in Haldensleben und Umgebung erreichte 3472 Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Facebook hat uns nicht erlaubt, Personen unter 18 Jahren eine Werbung für dieses Projekt zu zeigen. Vierundzwanzig Personen klickten auf den Link. Fünf Personen haben unseren Beitrag geliked, eine Person hat einen Kommentar geschrieben (“Mensch*innen sollten sich dafür interessieren”), eine Person hat angefangen, uns zu folgen, niemand hat uns kontaktiert.

Da es möglich war, dass politisch interessierte Menschen auf Facebook aktiver sind als auf Instagram, haben wir danach eine Werbekampagne auf Facebook mit einem angepassten Flyer erstellt (siehe Abbildung 1). Übrigens halten die meisten jungen Leute Facebook für eine hoffnungslos veraltete Plattform, die nur von alten Leuten genutzt wird, die nicht mehr in der Schule sind. Die Kampage erreichte über zweitausend Personen im Alter von 18 bis 25 Jahren, die sich laut Facebook für Freiwilligenarbeit oder soziale Themen interessierten. Eine Person mochte diesen Beitrag. Sechzehn Personen öffneten das Flugblatt. Niemand hat uns kontaktiert.

Abbildung 1. Gestaltet durch Aryaan Bovenberg.

2 Rekrutierung der Gruppen durch lokale Vertrauenspersonen

Der zweite und wahrscheinlich wichtigste Weg, Teilnehmende für Projekte zu gewinnen, ist der Kontakt zu lokalen Akteuren, die bereits ein Vertrauensverhältnis zu Mitgliedern der Zielgruppe aufgebaut haben. In diesem Fall handelt es sich hauptsächlich um Lehrer im Sekundar- und Berufsschulbereich und Jugendarbeiter (m/w). Dieses Vertrauensverhältnis hat sich bei allen unseren Projekten als unerlässlich erwiesen, um Menschen zur Teilnahme an einem Projekt zu bewegen, und kann nur selten durch elektronische Kommunikation hergestellt werden.

Fast alle Schulen, die wir in Brandenburg und Sachsen-Anhalt kontaktiert haben, berichteten, dass sie bereits mit den bestehenden Aufgaben überlastet waren. Diese Überlastung hat sich natürlich mit dem Beginn der Covid-Pandemie im Februar 2020 weiter verstärkt. Es gab keine Zeit und keine Energie mehr für zusätzliche Projekte.

Viele Schulen berichteten auch einfach, dass ihre Schüler kein Interesse an Politik und damit an politischer Bildung hätten. Unser Gegenargument, dass dies ein Grund sein könnte, uns Zugang zu ihren Schülern zu gewähren, wurde nur selten gewürdigt. Bei einem anderen Bildungsprojekt, das wir kürzlich für die Europäische Union durchgeführt haben, stießen wir auf die gleiche soziale Ungleichheit: Die (ca. 30) Schulen mit bereits privilegierten Schülern nahmen eifrig teil, während die (ca. 150) Schulen in ländlichen oder benachteiligten Stadtvierteln mit Schülern, die am meisten von dem Projekt hätten profitieren können, nicht mitmachen wollten.

Unser Schwerpunkt lag daher auf Jugendbetreuern und anderen Sozialarbeitern. Nachdem die Betroffenen per E-Mail angeschrieben worden waren, wurden sie telefonisch kontaktiert. Insgesamt haben wir mit etwa 150 Personen gesprochen, manchmal über sehr lange Zeiträume. Diese Kontakte waren oft äußerst mühsam. Leider scheint diese Berufsgruppe, wie wir auch bei anderen Projekten beobachtet haben, stark demoralisiert zu sein. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die beteiligten Personen sehr oft über längere Zeiträume nicht erreichbar, antworten selten auf E-Mails und andere Post und scheinen regelmäßig den Glauben an ihre eigenen Aktivitäten verloren zu haben. Die Pandemie hat diesen Zustand noch verstärkt. Viele Sozialarbeiter sagten uns, dass das wenige soziale Kapital, das sie oft nur unter großen Bemühungen bei ihrer Zielgruppe aufgebaut hatten, durch die Corona-Maßnahmen zerstört wurde.  Oft hat man das Gefühl, noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen.

Letztendlich konnten wir jedoch mit Hilfe von einigen engagierten Jugendarbeitern zwei Gruppen rekrutieren.

3 Politische Kommunikation über soziale Medien

Ein Teil des Projekts bestand darin, dass die Gruppen ein Instagram-Konto eröffneten und mit ihren Beiträgen ein Publikum für das von ihnen gewählte Thema bildeten. Alle Teilnehmende erhielten außerdem einen Tag lang eine Schulung von einem Spezialisten der SSW darüber, wie sie ihre Beiträge am besten gestalten könnten, um ein breites Publikum zu erreichen. Es wurden tatsächlich vier Instagram-Konten eingerichtet. Diese gaben uns auch einen Eindruck von den Möglichkeiten der sozialen Medien, um insbesondere junge Menschen für soziale und politische Themen zu interessieren. Auch hier erwiesen sich die Möglichkeiten als begrenzt.

Der beste Instagram-Account (“Meetübermeat”) wurde wahrscheinlich von den Teilnehmern in Zehdenick in Brandenburg erstellt. Sie veröffentlichten nicht weniger als 148 sehr hochwertige Beiträge rund um das Thema Fleischkonsum. Die Hoffnung war, dass mehr Informationen zu einer Verringerung des (übermäßigen) Verzehrs von Tieren führen würden. Dies würde einen großen Beitrag zur Nachhaltigkeit, Lebensqualität und öffentlichen Gesundheit leisten.

Die Beiträge wurden mit viel Liebe und handwerklichem Geschick erstellt und enthielten eine große Menge an Erkenntnissen. Zu den Unterthemen gehörten die Auswirkungen des Fleischkonsums auf die Umwelt, die Lebensbedingungen der Tiere in der Fleischindustrie, die Frage, wie viel Fleisch man aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich essen sollte, vegetarische Rezepte, Informationen über Fleischersatzprodukte, Wasserverbrauch, Mikroplastik, Antibiotika usw. Auch die Bewegung Fridays for Future wurde berücksichtigt. Trotz der Relevanz, der großen Kompetenz und des Einsatzes vieler Hashtacks wurden in sechs Monaten nicht mehr als 78 Follower gefunden, die Posts wurden im Durchschnitt von nicht mehr als 15 Personen “geliked” und nur in Ausnahmefällen wurde auf einen Post reagiert. Es war auch nicht möglich, die Zahl der Mitglieder der Gruppe auf diese Weise zu erhöhen.

Post von Meetübermeat: Was hat Milch 🥛 eigentlich mit dem Klima zu tun??? Bei der Herstellung von Milch wird viel Platz in Anspruch genommen außerdem verpestet sie die Luft. Die Kühe 🐮 stoßen CO2 aus, das Futter was sie bekommen muss erst geliefert werden und verbraucht durch den Transport CO2 und nimmt große Flächen in Anspruch. Und dann muss die Milch noch in unsern Supermarkt um die Ecke gelangen. Das verschmutz wiederum sich die Luft und viel CO2 wird außgestoßen. Aber was gibt es für Alternativen? Eins kann ich euch sagen es gibt einige! Hafermilch, Sojamilch und Mandelmilch sind wohl die bekanntesten. Es gibt aber auch Haselnussmilch oder Hirsemilch 🥛. Am besten in der Ökobilanz schneidet die Hafermilch ab. Da sie regional angebaut werden kann. Für die Herstellung von Pflanzlicher Milch wird auch Platz in Anspruch genommen. Aber wesentlich weniger als bei der herkömmlichen Kuhmilch 🐄. Ich mag Hafermilch sehr gerne und esse sie immer zu meinem Müsli! Habt ihr Erfahrung mit pflanzlicher Milch? Was ist euer Liebling???

Um dies etwas einzuordnen: Einer unserer Kollegen hat die seltsame Angewohnheit, auf Instagram ein Bild von jedem Abendessen zu posten, das er isst (übrigens sehr viel Fleisch). Er hat fünfmal so viele Follower und kann auf deutlich mehr Likes und Kommentare zählen.

Der Keßlerturm wurde im Jahr 1913 gebaut. Mit einer Höhe von 26 Metern bietet der Turm einen wunderschönen Rundumblick über das Saaletal. Bei guten Wetter und weiter Sicht, sieht man den Brocken im Harz. ⛰ Ein Ausflug dorthin lohnt sich. 😇

Wenn man eine deliberative Versammlung organisieren möchte oder Menschen motivieren will, politisch aktiv zu werden, ist es hilfreich, ein Problem zu haben, das man gemeinsam mit den Bürgern diskutieren und lösen könnte. Hier ergab sich ein Problem mit der zweiten Gruppe: Die Gruppenmitglieder waren überwiegend der Meinung, dass es in ihrer Heimatstadt Bernburg an der Saale (Sachsen-Anhalt) keine nennenswerten Probleme gibt. Das größte Problem, das sie sahen, war, dass nur wenige Menschen, vor allem junge Menschen, darüber informiert waren. Die Ziele, die sie sich als Jugendbeirat[1] setzten, waren daher eher bescheiden. Der größte Erfolg der letzten Jahre, der auch in den sozialen Medien weithin bekannt gemacht wurde, war die Einrichtung eines Zebrastreifens. Der Jugendbeirat schien von einigen Mitgliedern auch eher als erster Schritt in eine parteipolitische Karriere wahrgenommen zu werden, denn als ein Gremium, das die Interessen und Ideen junger Menschen zu vertreten und zu fördern versucht.

Der Account der Gruppe (https://www.instagram.com/visionbernburg/) sollte der Welt vermitteln, dass es gute Gründe gibt, in Bernburg zu bleiben oder sogar dorthin zu ziehen: “DamitDieJugendKommtUndBleibt👣 Hier zu leben, ist schöner, als du vielleicht denkst.🐻🏰🐻Sei dabei, gestalte mit uns eine Zukunft für Deine Stadt!🎨”. Sie wollten eine Zukunftsvision entwickeln, wie Bernburg noch attraktiver gestaltet werden kann, als es nach Ansicht der Beteiligten bereits ist.

Im Prinzip hat das gewählte Thema viele soziale und politische Dimensionen, die in den Beiträgen hätten behandelt werden können. Man denke an die Folgen der Verstädterung und des Pendelns für die Gesellschaft und die Umwelt, an die Überalterung und Schrumpfung der Bevölkerung oder an das uralte Thema, was ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft ausmacht und inwieweit dies in der Großstadt oder auf dem Lande erreicht werden kann. Leider waren die Menschen in dieser Gruppe kaum in der Lage, diese Übersetzung vorzunehmen. Die 39 Beiträge, die veröffentlicht

An der Spree liegt nur Müll!Glaubt ihr das stimmt? Wir, das @ju_fuewa Team würden gern wissen was ihr davon haltet das an der Spree verteilt immer wieder Müll an Orten auftaucht, an denen er nicht seien sollte. Wie denkt ihr darüber? Schreibt es uns in die Kommentare!!!

wurden, zeigten Bilder von schönen touristischen Orten in Bernburg oder dienten dazu, für sich selbst zu werben. Dennoch hat dieser Account in einem Jahr 157 Follower gewonnen. Die einzelnen Beiträge wurden im Durchschnitt von etwa 25 Personen geliked. Es kam zu keinen Reaktionen oder Diskussionen. Auch führte es nicht zu mehr Interesse an dem Projekt VisionBernburg.

Eine Gruppe in Fürstenwalde (Brandenburg) erstellte zwei Konten ju_fuewa und ju_fuewa.voices mit 132 bzw. 51 Followern. Dabei ging es um Langeweile und die Probleme, die daraus entstehen können: Wegzug aus Fürstenwalde, Alkohol- und Drogenmissbrauch, psychische Probleme, unerwünschtes Verhalten im öffentlichen Raum, Kriminalität. Die Probleme konzentrieren sich vor allem auf einen Platz in Fürstenwalde, wo sich abends große Gruppen von Jugendlichen versammeln und versuchen, sich mit Musik, Alkohol und Drogen zu vergnügen, oft zum Unmut der Anwohner.

Etwas mehr als den anderen Gruppen gelang es den Teilnehmern in Fürstenwalde, Diskussionen anzustoßen und dabei auch andere Medien zu nutzen (z. B. wurde eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet). Die Personen wurden ausdrücklich aufgefordert, auf Aussagen oder Fragen zu antworten. Die Zahl der Beiträge hätte höher sein können, aber die Beteiligten haben auch andere Medien ausprobiert. Es wurde ein Graffiti-Workshop mit einem Künstler organisiert und ein Podcast über dasselbe Thema aufgenommen, nachdem zuvor ein Podcast-Workshop besucht worden war. Die Reichweite die Podcasts war wiederum begrenzt, aber seine Produktion hat wahrscheinlich das Verständnis für lokale Themen und die Fähigkeit, Medien für die soziale Kommunikation zu nutzen, weiter verbessert.

4 Die politische Motivation der Teilnehmer

In der Politik geht es in erster Linie darum, eine Vision des Gemeinwohls zu formulieren und öffentliche Unterstützung für die Umsetzung dieser Vision zu gewinnen. Daher steht die deliberative politische Beteiligung im Mittelpunkt unserer Projekte. Wir versuchen, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in die Entwicklung und Umsetzung substanzieller, begründeter Visionen des öffentlichen Interesses einzubeziehen. Diese Sichtweise von Politik und Demokratie kam in Zehdenick und Fürstenwalde sehr schön zum Ausdruck, scheint aber nicht bei allen angekommen zu sein oder gar als erstrebenswert erachtet zu werden.

Einige führende Persönlichkeiten schienen Politik fast ausschließlich als Parteipolitik zu verstehen. Sie waren auf der Suche nach Fähigkeiten, Instrumenten und Netzwerken, um in einer politischen Partei Karriere zu machen. Das Interesse an inhaltlichen Diskussionen über gesellschaftliche Entwicklungen, Probleme und Ziele war begrenzt. Die (in Deutschland relativ große) Unterstützung durch staatliche Einrichtungen wie die Bundeszentrale für politische Bildung oder Demokratie Leben! wurde vor allem zur Verwirklichung persönlicher politischer Ambitionen genutzt. So verstanden einige unter Politik in erster Linie die Vernetzung, die Ausübung politischer Funktionen und hoher Ämter und alles, was dies in den zwischenmenschlichen Beziehungen mit sich brachte. Man ist ständig auf Parteitagen und in den sozialen Medien unterwegs, die vor allem darüber berichten, welche wichtigen Kontakte man diesmal getroffen hat. In ihren Beiträgen auf Instagram und Facebook geht es hauptsächlich um die Person und selten um Ideen, Positionen oder Vorschläge zu öffentlichen Angelegenheiten.

5 Inhalte der politischen Bildung

Alle Gruppen erhielten im Durchschnitt etwa fünf Tage politische Bildung. Die Bereitschaft der insgesamt etwa vierzig Teilnehmer an diesem Projekt so viel ihrer Freizeit für diese Ausbildung und die anderen Aktivitäten zu opfern, war selbstverständlich lobenswert. Bei der ersten Sitzung wurden den Mitgliedern die Ideen und Erwartungen an das Projekt erläutert. Anschließend wurde eine Vielzahl von Themen inhaltlich diskutiert. Kurz gesagt: Was sind ihrer Meinung nach den wichtigsten aktuellen gesellschaftlichen Problemen? Welches Thema wollen die Gruppenmitglieder als Gegenstand der geplanten Deliberation wählen? Der Zusammenhang zwischen Demokratie, Zivilgesellschaft und Deliberation. Die Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren von Instagram und anderen sozialen Medien. Die Identität. Freiheit und Autonomie. Die Entwicklung der politischen Präferenzen. Zukunftsvisionen und Zukunftswerkstätte. Die Ziele der Deliberation, ihre Organisation, der Aufbau eines deliberativen Dialogs, die Merkmale einer erfolgreichen Deliberation, die wissenschaftliche Forschung zur Deliberation. Gleichstellung der Geschlechter. Und Nachhaltigkeit.

Darüber hinaus wurden Themen diskutiert, die mit dem von der Gruppe gewählten Thema zusammenhingen. In Sachsen-Anhalt wurden beispielsweise statistische Daten zur Situation, zu den Einstellungen und Präferenzen der Jugendlichen in diesem Land ausführlich diskutiert, die die auch vor Ort beobachtete Tendenz zu unzufriedenen und wegziehenden Jugendlichen widerspiegeln (vgl. Neebe 2021). Auch die Organisation der Deliberation war ein ständiger Punkt der Aufmerksamkeit.

Zu verschiedenen Themen wie Freiheit, Autonomie, Gleichstellung der Geschlechter und Nachhaltigkeit wurden Deliberationen durchgeführt, um zu zeigen und zu üben, wie eine Deliberation sinnvoll organisiert werden kann. Einer der wichtigsten Punkte war es, deutlich zu machen, dass man in einer deliberativen Sitzung einerseits die Diskussionen mit möglichst objektiven Informationen füttern und andererseits den Teilnehmern so viel Freiheit wie möglich geben muss, um ihre eigenen Inhalte in die Diskussionen einzubringen. Dies schafft natürlich ein Spannungsfeld, das man mit größtmöglicher Integrität zu bewältigen versuchen sollte.

Des weiteres wurden Gruppendiskussionen geführt (auch auf der Grundlage von 226 vorbereiteten Powerpoints, die vor allem bei Bedarf gezeigt wurden), gemeinsame Übungen gemacht, Dokumentarfilme angeschaut und diskutiert (vor allem über Deliberationen und Zukunfstwerkstätte) und im Internet “Padlets” erstellt. Ein Beispiel für ein solches Padlet war eine Diskussion über Deliberation (was zeichnet ein gutes Argument aus; welche Eigenschaften zeichnen einen guten Diskutanten aus? Welchen organisatorischen Rahmen braucht gute Deliberation?).

In Vorbereitung auf das deliberative Meeting haben wir gemeinsam mit den Teilnehmenden in Bernburg auch eine Umfrage für Jugendliche entwickelt. Wir wollten unter anderem wissen, inwieweit sie für sich eine Zukunft in dieser Stadt sahen, aus welchen Gründen sie einen Wegzug in Erwägung zogen, welche Probleme sie in Bernburg sahen, welche Veränderungen sie sich wünschten, wie sie die Möglichkeiten der politischen Beteiligung einschätzten und welche Veränderungen sie sich hier wünschten. Die Ergebnisse zeigten, dass es bei der geplanten Deliberation viel Diskussionsbedarf gab. Darüber haben wir in “Junge Bürger in Bernburg (Saale): Ich will hier weg!” (2021)” ausführlich berichtet. Der Artikel enthält auch weitere Hintergrundinformationen über Bernburg und das Projekt, das wir dort durchgeführt haben. Die Umfrage hatte erneut gezeigt, dass viele junge Menschen keine Zukunft in Bernburg sahen. In dem Artikel “Junge Bürger*innen in Bernburg (Saale): Warum wollen sie weg?” (2021) haben wir einen Überblick über die verfügbaren empirischen Daten in diesem Bereich gegeben. 

6 Politische Bildung über das Internet

Wir haben viel investiert, um politische Bildung über das Internet anbieten zu können. Die Grenzen dieses Ansatzes waren nicht so sehr technischer, sondern sozialer und psychologischer Natur. Wenn man geschäftliche Informationen mit anderen Fachleuten austauschen möchte, sind Homeoffice- und Zoom-Meetings oft eine willkommene Ergänzung der Arbeitsmöglichkeiten. In der Regel kennt man die Leute bereits, baut auf früheren Kommunikationen auf, und zwischenmenschliche Beziehungen sind von geringer Bedeutung. Zoom kann jedoch den gewünschten persönlichen Kontakt auch für Berufstätige kaum ersetzen. Ein großer Teil der Kommunikation geht verloren (z. B. Körpersprache), und viele Kommunikationen sind nicht möglich (z. B. schnelle, spontane und kurze Interventionen).

Die von uns angebotene politische Bildung war freiwillig und musste von den Teilnehmern in ihrer Freizeit absolviert werden. Dies erforderte eine große Motivation. Solange wir die Möglichkeit hatten, durch persönliche Kontakte Engagement aufzubauen, konnten wir eine Zeit lang darauf aufbauen. Dort, wo wir von Anfang an ausschließlich über das Internet gearbeitet haben, erwies sich dies jedoch als äußerst schwierig. Solange man ein Zoom-Meeting “konsumieren” kann, ohne selbst viel zu investieren, kann man für einige Zeit suggerieren interessiert zu sein. Aber sobald es um größere Investitionen geht, sobald man zum Beispiel etwas organisieren muss, kann man relativ leicht abschalten. Die Leute gehen einfach nicht mehr ran.

7 Einige Schlussfolgerungen

Die Corona-Maßnahmen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf dieses Projekt, was ein weiterer Grund ist, warum es schwierig ist, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch einige Bemerkungen.

Ziel war es, eine Möglichkeit der politischen Partizipation zu bieten, die praxisorientierter, zeitgebundener, stärker auf ein konkretes Ereignis ausgerichtet und interaktiver ist. Dieses Ziel wurde zum Teil dadurch erreicht, dass die Teilnehmenden selbst ein Thema wählten, das ihnen wichtig war, und die Teilnahme in einer konkreten deliberativen Sitzung gipfelte. Die Zeitvorgabe (wir wollten den gesamten Prozess in etwa sechs Monaten durchführen) wurde durch die Corona-Pandemie unterlaufen.

Die Corona-Maßnahmen und die Ungewissheit über die weitere Entwicklung der Pandemie führten dazu, dass das Endziel des Projekts immer wieder aus den Augen verloren wurde. Dieses Ziel, der zwischenmenschliche Kontakt bei einem Treffen jeglicher Größe, war für viele Teilnehmer eine sehr wichtige Motivation. Wenn die Zeit zwischen der Vorbereitung einer politischen Aktivität und der eigentlichen Sitzung lang wird und die Chancen gering sind, dass die Sitzung überhaupt stattfinden kann, erweist es sich als schwierig, die Motivation aufrechtzuerhalten.

Die Bildung im Internet hat in diesem Zusammenhang ihre Grenzen. Internetverbindungen erschweren echte zwischenmenschliche Beziehungen und den Aufbau von Vertrauen und Verbindlichkeit und sind deshalb auch leichter zu brechen. Dort, wo wir uns nie persönlich kennengelernt hatten, waren die Gruppenchemie und -dynamik wesentlich eingeschränkter als dort, wo dies der Fall gewesen war.

Die Möglichkeiten der Nutzung sozialer Medien, um Menschen zur politischen Beteiligung an Projekten zu bewegen, erwiesen sich als sehr begrenzt. Das Potenzial von Instagram, dem bevorzugten Kommunikationsmittel unserer Zielgruppe, zur Anregung sozialer Diskussionen erwies sich ebenfalls als sehr beschränkt. Die Anzahl der Personen, die über die erstellten Instagram-Konten erreicht wurden, war relativ gering und die Interaktionen waren vernachlässigbar. 

Der zwischenmenschliche Kontakt bleibt für die politische Partizipation unverzichtbar. Dies erklärt auch die in den Rückmeldungen geäußerte Wertschätzung für das Angebot der deliberativen politischen Bildung (siehe auch Blokland 2018 und 2020). Diese Form des interaktiven Unterrichts unterscheidet sich grundlegend von dem in Deutschland immer noch verbreiteten “Frontalunterricht”, bei dem hauptsächlich vermeintliche Fakten von der Kanzel vermittelt werden. Die Rückmeldungen erfolgten durch Umfragen, Mitteilungen der beteiligten Jugendbetreuer und durch Fragen am Ende jedes Treffens, wie z. B. “Wie hat Ihnen das Treffen gefallen? Was haben Sie gelernt? Was wünschen Sie sich für das nächste Mal? Was möchten Sie in Ihr tägliches Leben mitnehmen? Was können wir besser machen?

Eine eher spielerische Form der Evaluation war die Aufforderung an die Teilnehmer in Bernburg, auf die Rückseite einer Postkarte ihrer Heimatstadt an einen Bekannten zu schreiben, wie sie das Projekt erlebt haben: “Das Projekt Klicks for Politics ist sehr zu empfehlen. Lockere Arbeitsweisen, Professionalität, ein reicher Erfahrungsschatz und eine gute Weiterentwicklung führen zu dem bestmöglichen Ergebnis. Ein Tipp wäre für dich ehrlich und interessiert deine Meinung zu äußern”… “Es ist ein lockeres Arbeiten und Ideen und Meinungen sind willkommen”… “Es war toll, diese Tage zu verbringen.

 

* Vielen Dank an Aryaan Bovenberg und Paul Börsting für ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Artikels.

Literatur

Blokland, Hans. 2018. Wie deliberiert man fundamentale Werte? Ein Bericht aus Brandenburg über unsere Ansätze, Herangehensweisen und Erfahrungen.

Blokland. Hans. 2020. Warum gab es eine Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland und nicht eine zwischen Nord und Süd? Reden über Diskriminierung, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie in Brennpunktschulen in Hamburg.

Blokland, Hans. 2021. Junge Bürger in Bernburg (Saale): Ich will hier weg!

Kurzius, Rachel. How the Zoom Era has ruined conversation. Washington Post Magazine. 11 Mai 2021.

Neebe, Mirjam. 2021. Junge Bürger*innen in Bernburg (Saale): Warum wollen sie weg?

Sander, Libby and Oliver Baumann. 2020. 5 reasons why Zoom meetings are so exhausting. The Conversation. May 5, 2020.

 

Anmerkungen

[1] Ein Jugendbeirat soll Kinder und Jugendliche an kommunalpolitischen Entscheidungen und Prozessen beteiligen. Diese Räte bestehen aus Vertretern der Kinder und Jugendlichen in der betreffenden Gemeinde. Sie haben unter anderem das Recht, in den Gemeinderäten zu sprechen und Anträge zu stellen.

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