Seit Eriksen (vgl. 1956) ist das Konzept der Identität von Bedeutung für Psychologie und Sozialwissenschaften und mittlerweile aus zeitgenössischen Diskursen nicht mehr wegzudenken. Identität hat dabei einen vorläufigen Charakter, ist eher Prozess als Endprodukt, wird von den Individuen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt bewusst und unbewusst konstruiert. Doch wie kann die Einheit des Selbst – Identität leitet sich ab aus dem lateinischen Wort idem und bedeutet soviel wie dasselbe, völlige Gleichheit  – konstruiert oder aufrecht erhalten werden, wenn durch Globalisierung, Enttraditionalisierung und dem Wechselspiel verschiedener kultureller Hintergründe und Lebensstiloptionen die Wahlmöglichkeiten unüberschaubar werden? Spielt persönliche Identität noch eine Rolle oder lösen wir uns alle auf in Kontingenz? Wir denken, dass Identität noch eine Rolle spielt. Sie ist, so die These, sogar wichtiger denn je und kann von autonomen Subjekten heute im Gegensatz zu früher unter Bezugnahme auf eine Fülle von Möglichkeiten gebildet werden. Das mag für manche Menschen anstrengend sein, bedeutet aber einen Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung.

Die Fragen ‚Wer bin ich (geworden)’ und ‚wer möchte ich sein’ sind deshalb auch in unseren Workshops zentral und dienen häufig als Ausgangspunkt für die Diskussion weiterer Themen wie Freiheit und Autonomie, Gleichberechtigung, Respekt, aber auch Diskriminierung oder Rassismus. Antworten auf die Frage ‚wer bin ich’ finden sich in Erzählungen, die einen Anfang, eine Mitte und ein vorläufiges Ende haben. Die Einheit wird, allem Wandel und allen biographischen Brüchen zum Trotz, aufrecht erhalten, indem widersprüchliche Erfahrungen im Narrativ integriert und synthetisiert werden. Kontingenz wird über das Erzählen in etwas Sinn- und Bedeutungsvolles transformiert (vgl. Ricœur 1990). Das Erzählen über die eigene Identität hilft somit, Widersprüche und Diskontinuitäten zu integrieren und schafft eine Einheit, die Gegensätze dennoch nicht negiert.

Auch in unserer Workshopreihe „Sag mir wer du bist“ luden wir unsere Teilnehmerinnen ein, zu erzählen, wer sie sind. Frauen mit Migrationshintergrund sind häufig wenig an diese Frage gewöhnt und anfangs manchmal darüber überrascht, dass wir uns für sie als Individuum interessierten und nicht für ihre Kinder oder ihre Familie. Gleiches gilt für Fragen danach, was ihnen wichtig ist oder was sie sich für ihr Leben wünschen. Häufig müssen wir einige Male nachhaken bevor klar ist, dass es wirklich nur um sie geht. Zu dieser Zurückhaltung in Bezug auf Individualität kommt die Sprachbarriere, die dem Erzählen Grenzen setzt. Um diese zu überwinden, entschieden wir uns vor einiger Zeit, unsere deliberativen Workshops um Elemente aus der Theaterpädagogik zu erweitern.

Theaterpädagogik als künstlerische und kreative Praxis stellt das Individuum und seine Ausdrucksfähigkeit in den Mittelpunkt und ist somit hervorragend geeignet, um Identitäten zu erforschen. Über die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen eigenen sich Schauspieler die Facetten ihrer Ausdrucksfähigkeit an. Aber auch Laien profitieren von den Techniken, welche die Wahrnehmung unseres Selbst und unseres Gegenübers schärfen, Sensibilität und Konzentrationsfähigkeit stärken, den Körper als Teil unserer Identität einbeziehen, unsere Ausdrucksfähigkeit erweitern und auch ein Stück weit erlauben, durch die Übernahme von Rollen in Distanz zu Erlebtem zu gehen. So dass Kräfte, die unser tägliches Leben bestimmen, isoliert und deutlicher erkannt werden. Spielen wir uns selbst oder haben wir unsere Identität für das Spiel verlassen? Beim Theater spielen, aber auch bei Körper- und Kontaktübungen, wird spürbar, ob wir mit uns selbst stimmig sind. Über unsere Körper spüren wir unsere eigene Lebendigkeit. Beim Theater spielen sind wir vollständig anwesend. Nicht nur unser Intellekt ist aktiv, wie es in Gesprächsrunden der Fall ist, sondern Körper, Geist und Seele werden gleichwertig angeregt. Das stärkt die Erfahrung von Authentizität, Kohärenz und Selbstverortung und hilft uns somit, uns selbst zu erkennen.

Als Workshopleiterinnen versuchen wir, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, in der alle sich wohlfühlen. Mit Übungen zur Reaktionsfähigkeit werden Körper und Geist geweckt. Wir müssen schnell auf die Anderen reagieren, sehen uns dabei in die Augen, kommen auch mal an unsere Grenzen und lachen dann gemeinsam darüber. Spiele zu Konzentration machen den Kopf frei, da wir so aufmerksam sind, dass z.B. die nahende Prüfung für eine Zeit vergessen wird. Improvisationen schärfen unsere Sinne. Imaginationsübungen erlauben uns Reisen an gewünschte und ersehnte Orte und regen wiederum an, im Anschluss weiter zu erzählen, wer wir sind.

Wir haben die Workshopreihe jetzt dreimal durchgeführt, dabei viele wertvolle Menschen kennen gelernt und eine Fülle an Geschichten gehört. Fröhliche, erschütternde, bewegende, spannende…immer wieder bereichernde.

Eriksen, Erik H. (1956): The Problem of Ego Identity, in: Journal of the American Psychological Association 4(1): 56-121.

Ricoeur, Paul; Bedorf, Thomas; Schaaff, Birgit (1996): Das Selbst als ein Anderer, Fink (Wilhelm).

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