Ich bin aus Algerien und 32 Jahre alt. Ich gehöre zu den Berbern, die nicht nur in Algerien, sondern auch in Tunesien und Marokko leben, hauptsächlich in der Küstenregion. Wir haben unsere eigenen kulturellen und religiösen Traditionen. Diese werden jedoch in Algerien zunehmend unterdrückt: Christliche Kirchen werden zum Beispiel immer wieder geschlossen und in Moscheen umgewandelt; in den Gebieten, in denen Berber leben, wird viel weniger in Schulen und andere Einrichtungen investiert. Zusammen mit einigen Freunden habe ich mich mit Demonstrationen und Veröffentlichungen immer lauter gegen diese Zustände ausgesprochen. Wir wollten auch eine Trennung zwischen Staat und Religion, wir wollten faire Wahlen und mehr Demokratie.

2019 gab es einen Massenprotest gegen Präsident Bouteflika, der für eine fünfte Amtszeit kandidieren wollte. Infolge dieser Proteste trat er zurück, und die Wahlen wurden mehrmals verschoben. Am Ende gaben aus Protest nur 40 % der Menschen ihre Stimme ab. Alle fünf Kandidaten gehörten zu derselben Elite, gegen die die Bevölkerung das ganze Jahr über in großer Zahl demonstriert hatte. Andere Kandidaten weigerten sich, zu kandidieren. Tebboune gewann die Wahlen, aber er erhielt nur etwa fünf Millionen Stimmen. In Algerien haben 25 Millionen Menschen das Wahlrecht. Tebboune wird stillschweigend von den Militärs unterstützt.

Die Eliten hatten Angst vor Veränderungen. Sie nutzten die Corona-Epidemie, um jede Opposition zu unterdrücken. Einschüchterung im Allgemeinen wurde zur gängigen Praxis. Sie nehmen dich fest und du verschwindest im Gefängnis. Man ist dort einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr, und dann wird man plötzlich entlassen. Es gibt keinen Prozess. Beim nächsten Mal passt man jedoch auf, dass man protestiert oder politisch aktiv wird.

Nachdem immer mehr meiner Freunde verschwanden, beschloss ich, zu meiner eigenen Sicherheit zu fliehen. Ich ging nach Russland, das einzige Land, für das wir kein Visum brauchten. Ich war zwei Jahre lang in Russland und bin dann über Weißrussland und Polen nach Deutschland gekommen. Nach Russland kam ich mit einem Touristenvisum, das nach einem Monat ablief. Seitdem war ich illegal. Ich beantragte Asyl, aber das wurde abgelehnt. Ich war in Moskau und St. Petersburg, traf aber in einer kleineren Stadt einen Bauunternehmer, der mir einen Job anbot. Ich arbeitete dann im Baugewerbe als Elektroingenieur, wofür ich auch ausgebildet war. Es war eine gute Zeit in Russland, ich hatte Arbeit, eine Wohnung, ein Auto und Freunde. Aber ich war illegal, was viele Probleme mit sich brachte, unter anderem die Unmöglichkeit zu reisen und das Land zu verlassen. Ich habe eine jüngere Schwester, die seit zwei Jahren in Marokko lebt, einen Bruder, der seit langem in San Francisco ist (er hatte in einer Lotterie eine Green Card erhalten), und einen weiteren Bruder, der seit zehn Jahren in Paris lebt. Unsere Eltern sind bereits verstorben. Ich wollte zu meinem Bruder nach Paris ziehen. Ich spreche Französisch und hoffte daher, schnell einen Job in Frankreich zu finden.

Ich reiste an die weißrussische und polnische Grenze und verbrachte eine Woche im Niemandsland zwischen den beiden Ländern. Bei meinem ersten Versuch, die Grenze zu überqueren, wurde ich von polnischen Grenzsoldaten aufgegriffen und zurückgeschickt. Sie nehmen einem erst einmal alles ab, auch die Kleidung, und man wird überall geschlagen, wo sie einen treffen können. Ich hatte zunächst die Hälfte meiner Habseligkeiten versteckt, was viele tun: Wenn man gefasst und zurückgeschickt wird, hat man immer noch etwas, auf das man zurückgreifen kann. Wenn man es schafft, die Grenze zu überqueren, ruft man Leute an, die zurückgeblieben sind, und verkauft sein verstecktes Hab und Gut.

Das Leben in dieser Grenzregion ist ein Dschungel, in dem nur die Stärksten überleben. Untereinander gibt es keine Solidarität. Solidarität, das Teilen von Essen und Trinken oder Geld, kann die eigene Chance, die Grenze zu überqueren, stark verringern und die Chance zu sterben, stark erhöhen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Aber jeder ist entschlossen. Man hat keine Wahl. Die Vorstellung, man könne Afghanen, Syrer oder Iraner, die sich unter oft erbärmlichen Bedingungen auf den Weg in dieses Niemandsland gemacht haben, zur Umkehr bewegen, ist absurd: Zurückgehen bedeutet für die meisten den Tod; also geht man weiter und versucht es immer wieder, egal wie oft man verprügelt wird.

Beim zweiten Mal gelang es mir, die Grenze zu überqueren. Ein Pole wartete mit seinem Auto auf mich – wir hatten zunächst telefonischen Kontakt. Die Telefonnummern dieser Helfer oder Schmuggler werden unter den Flüchtlingen ausgetauscht. Er nahm mich mit in sein Haus, wo ich duschen und mich rasieren konnte. Dies auch, um weniger aufzufallen. Dann brachte er mich mit einem anderen Auto an die deutsche Grenze. In Guben in Brandenburg bin ich über die Grenze gelaufen – es gibt eine Brücke über die Oder, die die Grenze zwischen den beiden Ländern bildet. Dann nahm ich den Zug nach Spandau, in Berlin. In Spandau kaufte ich eine Fahrkarte nach Paris, für den ICE. Gerade als der Zug losfahren wollte, kam die Polizei und kontrollierte die Papiere aller Fahrgäste. Papiere, die ich natürlich nicht hatte, und so wurde ich mitgenommen.

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich natürlich Regionalzüge nehmen sollen. Mein Leben hätte dann einen ganz anderen Verlauf genommen.

Die Polizei war höflich und freundlich. Ich beantragte Asyl. Sie gaben mir zu essen und zu trinken und sagten mir, ich solle mich in Eisenhüttenstadt melden, dem Flüchtlingslager, in das die Menschen nach ihrer Ankunft kommen. Dort war ich etwa 10 Wochen lang. Dann wurde ich nach Wünsdorf gebracht. Ich bin jetzt seit vier Monaten hier. Ich hatte bereits mein Interview. Es hat mehr als fünf Stunden gedauert. Sie haben immer wieder gefragt, warum ich Algerien verlassen habe. Ich habe ihnen erklärt, dass ich einen festen Job hatte, eine Wohnung, ein Auto, dass alle meine Freunde in Algerien sind, und dass ich wirklich nicht zum Spaß nach Russland gegangen bin. Jetzt warte ich auf ihre Entscheidung. Ich werde nie wieder nach Algerien zurückkehren. Es ist zu gefährlich für mich. Wenn Deutschland mich nicht aufnimmt, werde ich versuchen, nach England, in die Vereinigten Staaten oder nach Frankreich zu gehen. Algerien aber ist Geschichte.

Ich bin Elektroingenieur und habe eine Ausbildung als Lokführer absolviert, und in Algerien habe ich zehn Jahre Berufserfahrung gesammelt. Ich bin auch mit Straßenbahnen gefahren, von Alstom. Ich habe sie auch in Deutschland gesehen, ich könnte im Handumdrehen losfahren. Ich würde gerne so schnell wie möglich wieder arbeiten, es ist nicht gut, still zu sitzen, man fängt an zu denken. Natürlich muss ich die Sprache lernen und daran arbeite ich jetzt hart. Ich beherrsche Französisch, aber ich spreche auch Englisch, Russisch und Arabisch.

Das Leben hier im Lager ist in Ordnung. Wenn man erst einmal in Russland und Weißrussland war, ist man dankbar für alles, was man bekommt. Wir teilen uns ein Zimmer mit sechs Personen; viel Privatsphäre gibt es nicht. Man hat keine Kontrolle darüber, mit wem man das Zimmer teilt. Ich bin viel draußen und warte, bis alle geschlafen haben, bevor ich selbst ins Bett gehe. Nachts ist es hier sehr unruhig. Es gibt eine Menge Lärm. Die Leute schreien im Schlaf, andere streiten sich. Vielen geht es nicht besonders gut.

Ich habe natürlich keine Erfahrung mit Deutschen. Ich bin erst seit vier Monaten hier und befinde mich hauptsächlich im Lager. Hier gibt es keine Deutschen.

 

Das obige Gespräch wurde im Sommer 2023 geführt. Im April 2024 sprach ich erneut mit Idir. Was war seither geschehen?

Von Wünsdorf aus wurde ich in eine Flüchtlingsunterkunft irgendwo in der Nähe der polnischen Grenze in Nordbrandenburg verlegt. Wir teilen uns ein Zimmer mit zwei Personen. Das Lager hat insgesamt etwa 85 Bewohner. Es gibt hier absolut nichts zu tun. Es gibt keine Sportanlagen, es gibt keinen Gemeinschaftsraum, es finden keine Aktivitäten oder Kurse statt. Wir befinden uns mitten im Wald. Das nächstgelegene kleine Dorf ist zwei Kilometer entfernt. Auch dort gibt es nichts zu tun. Der letzte Bus hält um 18:35 Uhr. Wenn man ihn verpasst, muss man 7 Kilometer laufen. Es gibt einen Wachmann. Und vier Stunden in der Woche, montags von 8 Uhr bis 12 Uhr, ist ein Sozialarbeiter da. Vor seiner Tür steht dann eine lange Schlange von Leuten mit Papieren von Behörden, mit denen man etwas zu tun hat. Oft kommt der Sozialarbeiter auch gar nicht. An seiner Tür hängt ein Schild, auf dem steht, dass er abwesend ist. Es ist unklar, wann er wiederkommen wird. Ich verstehe nicht, wie man sich hier in Deutschland integrieren kann. Es gibt Leute, die sind seit fast einem Jahr hier. In diesem Jahr haben sie nur gewartet, sonst nichts.

Seit zwei Monaten wohne ich nun mit meiner deutschen Freundin in Berlin. Ich gehe nur in meine Flüchtlingsunterkunft, um die Post zu holen. Wir haben uns in einem Tanzlokal in Berlin kennengelernt. Ich habe schon immer getanzt, auch in Algerien: Breakdance und brasilianische Tänze wie Salsa und Samba. Früher habe ich auch Basketball gespielt. Das tue ich jetzt in Berlin wieder: Ich gehe einfach auf Plätze, wo gespielt wird, und mache mit.

Ich weiß nicht, wie es mit meinem Asylantrag aussieht. Ich habe nie etwas darüber gehört und ich weiß nicht, wann sie eine Entscheidung treffen werden. Wenn sie negativ ausfällt, werde ich Berufung einlegen. Ich möchte unbedingt arbeiten, und im Prinzip darf ich auch arbeiten, aber ich bekomme keine Unterstützung vom Arbeitsamt oder von der deutschen Ausländerbehörde. Man bekommt so gut wie nie eine Antwort, wenn man ihnen schreibt. Ich war bei der Deutschen Bahn, schließlich bin ich Lokführer. Sie baten mich, mit einer Straßenbahn zu fahren (Ider zeigt mir ein Video, das er mit seinem Handy aufgenommen hat). Alles war gut, sie stellten fest, dass ich mich mit Straßenbahnen auskenne, nach 10 Jahren Berufserfahrung. Aber ich müsse erst Deutsch lernen, wurde mir gesagt. B2 muss ich haben. Also habe ich mich für Deutschunterricht beworben, aber ich bekomme keine Antwort oder man sagt mir, ich solle warten, weil es keine Kurse gibt. In der Zwischenzeit versuche ich, selbst Deutsch zu lernen, über das Internet, mit Büchern und mit der Hilfe meiner Freundin. In Berlin ist es allerdings nicht einfach, Deutsch zu lernen, weil jeder sofort anfängt, mit einem Englisch zu sprechen. So wie die Dinge jetzt sind, würde ich aber gerne in Deutschland bleiben, arbeiten und mir ein Leben aufbauen.

 

 

 

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