Um die Demokratie zu stärken, brauchen wir eine neue Gesprächskultur. Wir schaffen dazu öffentlichen Räume, in dem sich Bürgerinnen und Bürger regelmäßig treffen können, um nach einem Impuls bei Kaffee und Kuchen gemeinsam über gesellschaftliche Themen auszutauschen und sich dabei besser kennen zu lernen.

Drei Überlegungen liegen dem Projekt zu Grunde:

  1. In unserer Gesellschaft gibt es nicht mehr genügend Plattformen, auf denen Bürgerinnen sich treffen können, um über gesellschaftliche Themen zu diskutieren. Als Folge dessen ist die demokratische Praxis eingeschränkt: wir haben zu wenig Möglichkeiten, Informationen und Ansichten auszutauschen, und können folglich keine informierten Präferenzen entwickeln, die für eine Demokratie aber unabdinglich sind. Wir lernen immer weniger mit Komplexität sowie mit gegensätzlichen Standpunkten umzugehen.
  2. Darüber hinaus tut sich ein Graben auf zwischen Wissensträger und Bürger. Akademiker zum Beispiel verstecken sich in Elfenbeintürmen und die Bürger in den Blasen ihrer Facebook- und Instagram-Streams. Um die Verbindung zwischen Wissensträger – Vertreter von Unternehmen, Universitäten, Forschungsinstituten, der Zivilgesellschaft, bestimmten Berufsgruppen, der Presse, Politik und Verwaltung – und Bürger wiederherzustellen und den Wettbewerb um fundierte Ideen zu stärken, brauchen wir wieder Plattformen, auf denen Wissensträger ihr Wissen teilen und Menschen dazu einladen, sich über dieses Wissen untereinander auszutauschen.
  3. Einsamkeit ist eines der am weitesten verbreiteten Probleme moderner, individualisierter Gesellschaften. Diese Art von Begegnungen können auch die Vereinsamung entgegenwirken.

Ein Jahr lang organisieren wir monatlich an drei Standorten etwa zweistündige Treffen. Wir geben eine Einführung von etwa 25 Minuten zu einem gesellschaftlichen Thema. Für weitere 45 Minuten moderieren wir eine Diskussion zwischen den Teilnehmenden. Danach können die Menschen das Thema oder jedes andere Thema unter sich weiter diskutieren.

Die Teilnehmenden werden gefragt, über welche Themen sie sprechen möchten. Neben lokale Themen sind allgemeine Themen möglich wie Einsamkeit, Klimawandel, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Migration und Integration, alternative Energien, Algorithmen sozialer Medien, politische Radikalisierung, soziale Ungleichheit usw. Die Themen werden von uns so aufbereitet, dass sie leicht verständlich sind und so, dass jede(r) mitdiskutieren kann.

Mit diesem Projekt verfolgen wir also mehrere Ziele. Wir wollen eine Plattform schaffen, auf der sich Bürger und Bürgerinnen mit unterschiedlichen sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Hintergründen regelmäßig treffen können, um sich über wichtige gesellschaftliche Themen auszutauschen. Dadurch hoffen wir, den sozialen Zusammenhalt, das gegenseitige Verständnis, die politischen Kompetenzen der Bürger, die lokale politische (Debatten-)Kultur und die lokale Zivilgesellschaft zu stärken.

In diesem Zusammenhang hoffen wir auch, die Verbindung zwischen den Wissensträgern in unserer Gesellschaft und der allgemeinen Bevölkerung zu stärken oder wiederherzustellen. Auch das soll helfen, Radikalisierung, die Verbreitung von Fake-News und Verschwörungstheorien, die Entwicklung von Echokammern, die von den Algorithmen der sozialen Medien bestimmt werden, zu verhindern.

Das Zusammenbringen von Menschen hilft auch, ein anderes großes soziales Problem zu bekämpfen: die Einsamkeit der Menschen. Einsamkeit hat nicht nur schwerwiegende persönliche psychische und physische Folgen, sondern auch erhebliche politische Konsequenzen.

Unser Ziel ist es weiter, dass sich aus den Teilnehmern eine Gruppe engagierter BürgerInnen bildet, die mehr und mehr Aufgaben von der SSW übernehmen und das Projekt schließlich eigenständig durchführen können.

Im Jahr 2024 werden wir an drei Orten Bürgerdialoge veranstalten. Das sind insgesamt etwa 40 Treffen. In Zusammenarbeit mit dem örtlichen Friedrich-Wolfe-Theater fand das erste Treffen am 20. Februar in Eisenhüttenstadt statt. Das Plakat zu dieser Veranstaltungsreihe finden Sie hier: Miteinander reden Flyer. Außerdem laufen die Vorbereitungen für eine Dialogreihe in Ludwigsfelde. Weitere Informationen folgen zu einem späteren Zeitpunkt.

Mehr Hintergrundinformationen zu den Erfahrungen, Zielen und Inhalten dieser Art von Deliberation finden Sie hier: https://socialscienceworks.org/resisting-democratic-decline-deliberation-and-some-lessons-from-germany-and-beyond/

Streitkultur: Frank-Walter Steinmeier

“Manche verwechseln das Recht auf Meinungsfreiheit mit dem Anspruch darauf, dass auch alle anderen ihre Meinung teilen. Oder mit dem Recht, jede noch so absurde Behauptung müsse ernst genommen werden. Wer sich aber öffentlich äußert, muss natürlich mit der Überprüfung seiner Aussage rechnen und mit Widerspruch. Nur leider kommt diese Selbstverständlichkeit immer mehr abhanden. Vielleicht liegt das auch an jenen Medien, die wir uns angewöhnt haben, sozial zu nennen, und die heute zur Meinungsäußerung mehr und mehr benutzt werden. Auf demselben Gerät, mit dem ich ungefiltert meine Meinung in die Welt schicken kann, kann ich mit einer Fingerbewegung konträre Ansichten wegwischen. Das verführt zu einem Absolutheitsanspruch, der aber trügt. Denn Widerspruch und gegenteilige Ansichten kann man in der realen Welt eben nicht einfach wegschnippen. Man kann sie nur aushalten und im offenen Dialog argumentativ bestreiten.

Was wir wieder neu brauchen, ist Streitkultur. Streitkultur billigt anderen zunächst lautere Absichten zu. Streitkultur erspart anderen keinen Widerspruch, aber sich selber auch keine Selbstkritik. Streitkultur fasst nicht mit Samthandschuhen an, aber lässt auch nicht die verbale eiserne Faust sprechen. Streitkultur öffnet nicht nur den eigenen Mund, sondern auch die eigenen Ohren. Streitkultur braucht den Wunsch, zu überzeugen und die Offenheit, sich gegebenenfalls auch selbst überzeugen zu lassen. Streitkultur braucht also beides: Mut und Gelassenheit. Wenn ich einen Strich drunter mache, dann gilt in meinen Augen folgendes: Wir haben kein Problem mit der Meinungsfreiheit. Wir haben ein Problem mit unserer Streitkultur. Wir müssen sie aufs Neue lernen.”

Eröffnung der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz. 18 November 2019.

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