Nadia Lejaille
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Vor fünf Jahren war alles ganz normal. Meine Mutter war Geschichtslehrerin und mein Vater Chemielehrer. Wir haben in Ankara gewohnt. Sie haben eine Prüfung bestanden und konnten danach für den Staat (Agrarministerium und Sport, und Jugendministerium) als Beamte arbeiten. Die Lebensbedingungen sind dann viel besser geworden, weil sie viel mehr verdient haben. Ich besuchte eine Privatschule.

2016 ist in der Türkei eine Art Putsch passiert und die Lage ist danach schlimm geworden. Alle Leute, die für den Gegner des jetzigen Präsidenten waren, also Gülen, wurden verfolgt. Ich war in eine seiner Schulen und deswegen wurden meine Eltern angezeigt.[1] Sie wurden entlassen. Ich bin zuerst zu unsere Heimatstadt Tokat umgezogen, wo mein Opa und meine Opa wohnen und bin in eine normale Schule gegangen. Meine Eltern haben versucht in Ankara die Lage zu klären und zu erklären, dass sie nicht schuldig sind aber nichts wurde geklärt und sie sind auch nach Tokat gekommen. Wir haben ein Haus gekauft, damit wir dort wohnen können. Nach sieben Monate wurde mein Vater festgenommen und er ist ein Jahr lang im Gefängnis geblieben. Nach zwei oder drei Monaten sind die Polizisten für meine Mutter gekommen aber sie ist weggelaufen, da sie wusste, dass die Bedingungen im Gefängnis schlimm sind. Die Menschen wurden unterdruckt und bedroht. Ich wurde auch auf dem Weg zur Schule verfolgt und sie haben Fragen gestellt. Ich wurde von meinem Schulleiter und meinen Klassenkameraden gemobbt, da sie wussten, dass mein Vater im Gefängnis war.

Mein Vater wurde entlassen. Danach haben sie meine Mutter gefunden und festgenommen. Ich war dabei und sie haben meine Mutter gedroht. Zum Glück wurde sie nicht ins Gefängnis geschickt sondern schon nach einer Woche entlassen. Mein Vater hat dann eine Strafe von 6 Jahren Gefängnis bekommen. Wir haben entschieden, dass es in der Türkei keine Zukunft für uns gibt und wir fliehen sollten.

Wir haben mit Freunden gesprochen, wie sie aus der Türkei geflohen sind und sind nach Istanbul gegangen. Wir hatten kaum noch Geld. Wir haben alles verkauft, was wir hatten: Haus, Auto, alles Mögliche. Von Istanbul sind wir über den Fluss in Griechenland gegangen. Es war nicht einfach, es war richtig kalt im November und wir mussten drei Stunden nachts laufen. Wir waren mit drei weiteren Personen auf dem Boot und das Boot ist kaputt gegangen aber wir waren bereits fast am Ufer. Am Ufer haben wir zwei Stunden lang auf griechischen Polizisten gewartet. Wir wurden festgenommen und ins Gefängnis geschickt. Bisher hatte ich nur die Geschichten von meinem Vater gehört aber dann habe ich es wirklich erlebt.

Es war nicht schön: wir konnten nicht auf die Toilette, weil die Türen abgeschlossen waren. Wir hatten keine richtigen Betten, es war sehr nass und wir hatten nur die Kleidung, die wir getragen hatten. Nach vier Tagen im Gefängnis sind wir ins Flüchtlingsheim gebracht worden. Dort wurden wir mit anderen türkischen Familien zusammengebracht. Wir mussten zu zwanzig Personen in einem Zimmer schlafen. Ich konnte nicht richtig auf die Toilette gehen, ich konnte nicht duschen und für mich als Mädchen, ich habe Bedürfnisse und es war wirklich schlimm. Irgendwie haben wir das überstanden. Wir wurden dann entlassen und wir haben gedacht, wir machen etwas Schönes. Wir hatten ein bisschen Geld und wir sind in einem Hotel gegangen. Nichts Luxuriöses aber mit einer Dusche. Wir hatten nur für eine Nacht genug Geld aber das war sehr schön.

Wir sind zwei Monaten in Griechenland in Athen bei Freunden meiner Mutter geblieben. Sie waren zwei oder drei Jahren zuvor geflüchtet. Es war sehr langweilig. Dann haben wir entschieden nach Deutschland zu fahren. Ich wollte wieder zur Schule gehen und ich habe ein bisschen angefangen zu lernen, damit ich nicht so viele Schwierigkeiten habe. Wir wollten als Familie nach Deutschland aber es hat nicht geklappt. Mein Vater ist erst drei Monate später nach Deutschland gekommen.

Eigentlich wollten wir nach Finnland, da ich recherchiert hatte, dass die Bildung dort viel besser ist. Wir hatten nicht vor nach Deutschland zu gehen. Wir haben die Flugticket gekauft und dachten, dass wir nur eine Nacht in Deutschland übernachten und dann weiterfahren würden. Aber eine Türkische Familie – einen Freund von meinem Vater – hatte uns erzählt, wie es in Deutschland ist, zu leben. Wir haben gedacht, dass es vielleicht besser ist, um einen Job für meinen Eltern zu finden. Und wir dachten, dass es in Deutschland einfacher ist, da es in Berlin so viele Türken gibt, die wir fragen könnten, wenn wir etwas nicht wüssten.

Wir hatten gar keine Ahnung, wie es in Deutschland sein wird. Für Finnland hatte ich für die Bildung ein bisschen recherchiert. Aber für Deutschland, ich denke, wenn wir die Türken in die Türkei fragen, würden sie keine guten Sachen erzählen. Viele erzählen schlechte Sachen, damit die anderen Türken nicht nach Deutschland kommen. Ich habe noch Kontakte mit einem Freund in der Türkei und er hat mir gesagt, dass die Lehrer in die Türkei das auch erzählen, damit wir nicht hierher ziehen.

Wir sind erst in Eisenhüttenstadt angekommen und dann nach Doberlug verlegt worden. Dort sind wir fast vier Monate geblieben. Es war nicht so schön, weil die Security uns nicht so gut behandelt hat. Wir waren irgendwie Untermenschen für den, weil wir geflüchtet sind. Wir wurden manchmal rassistisch behandelt aber ich konnte mich als 12 Jährige ohne Deutschkenntnisse nicht verteidigen. Ich habe eine Depressionsphase erlebt. Ich war oft krank und ich konnte nicht machen, was ich wollte.

Mein Vater ist nachgekommen und wir konnten als Familie nach Königs Wusterhausen ziehen. Wir sind sieben Monate dort geblieben. Es war schrecklich. Zum Glück hatten wir ein Bad und eine Toilette im Zimmer. Aber ich wohnte im gleichen Zimmer wie meine Eltern und die Küche war draußen für mehrere Familien. Und ich habe angefangen zu lernen. Ich wollte immer zur Schule, richtig lernen und Freunde finden. Aber ich war richtig enttäuscht, weil ich wieder anders behandelt wurde als andere Kinder. Ich war in die Willkommensklasse. Am Anfang war es für mich sehr schwierig, nicht verstanden zu worden und nichts zu verstehen. Ich wurde ein bisschen unterschätzt, weil ich ein Flüchtling war. Ich habe also entschieden, ich werde mich beweisen. Ich habe mich hingesetzt und habe gelernt: in einem Jahr habe ich die Deutsche Sprache gelernt.

Nach einem Monat in Königs Wusterhausen haben meine Eltern Deutschkurse bekommen.

Wir bekommen Hilfe vom Jobcenter. Wir sind richtig zufrieden damit. Es ist ausreichend für uns.

Als wir im Flüchtlingsheim waren, haben wir unsere Aufenthaltserlaubnis erhalten und unsere Ausweise. Danach war es mit dem Geld ein bisschen besser. Wir haben vier Monate auf diese Aufenthaltserlaubnis gewartet. Das ging richtig schnell! Wir hatten wirklich viel Glück, dass die Frau, die für uns zuständig war, uns sehr geholfen hat. Also das ist eine Glückssache: wenn du einen guten Sozialarbeiter hast, kann es schnell gehen. Wenn der Sozialarbeiter schlecht ist, dann muss man richtig viel selber machen.

Dann haben wir die Wohnung in Potsdam gefunden und sind umgezogen. Ab dann war unser Leben viel viel besser. Um die Wohnung in Potsdam zu finden, haben wir keine Hilfe bekommen. Mein Vater hat sich hingesetzt und Stundenlang nach einer Wohnung gesucht. Es gibt zwar Sozialarbeiter aber ich glaube nicht, dass Sie uns helfen konnten. Es gibt eine Frau, die uns ein bisschen geholfen hat. Aber ich glaube, eine Wohnung in Deutschland zu finden ist nicht einfach. Man muss sich richtig viel Mühe geben, damit man eine Wohnung findet. Ich glaube nicht, dass die Sozialerbeiter so viel Zeit dafür haben. Man muss sich hinsetzen und viel suchen. Manche sagen, wenn du kein Deutsche bist, dann bekommst du diese Wohnung nicht. Wir haben sieben Monate auf die Wohnung gewartet.

Mit der Wohnung sind wir erleichtert: endlich haben wir ein Zuhause!

Und dann hat Corona angefangen. Es war schwierig wieder ein Deutsch Kurs zu finden. Ich wollte in die Schule gehen und lernen aber die Schule wurde geschlossen und alle Schüler wurden nach Hause geschickt. Die Anmeldung in die Schule war schwierig. Sie haben mir gesagt, dass ich erstmal einen Gesundheitscheck im Krankenhaus machen soll. Ich habe in die Schule gesagt, dass ich nicht weißt wie das geht. Und ich wurde angeschnauzt, weil ich in die Schule gegangen bin, obwohl ich keinen vollständigen Impfpass hatte. Hinter mir war eine deutsche Familie und sie hatten auch keinen Impfpass aber sie wurden richtig gut behandelt und geholfen. Ich war richtig sauer und das hat mein Ehrgeiz hochgedreht. Zu Hause habe ich angefangen richtig zu lernen. Ich war fünf Monate zu Hause mit einem Lernplan, das ich entwickelt hatte und habe die 7. Klasse nachgeholt und die 8. Klasse vorbereitet. Endlich konnte ich zur Schule gehen. Meine Eltern sind zum Deutsch Kurs gegangen, um die B1 Prüfung zu machen.

Ich habe die 8. Klasse im August 2020 angefangen. Das hat richtig gut geklappt. Die Lehrer haben es gemerkt, dass ich mehr kann. Ich hatte das Ziel auf Gymnasium zu gehen. Innerhalb von fünf Monaten wurde ich Klassenbeste.

Als ich die 9. Klasse angefangen habe, haben meine Eltern mit B2 angefangen aber im Online-Unterricht. Vor zwei Monaten haben sie die B2-Prüfung bestanden.

Es ist nicht so schwer, sich an das Leben hier zu gewöhnen und wenn man ein bisschen Geld hat, dann hat man gute Bedingungen hier. Aber was schwierig für uns ist, ist dass die Leute umdenken müssen. Das habe ich auch in der Schule erlebt: wenn ich gesagt habe, dass ich einen Flüchtling war, haben sie mich behandelt, als ob ich außerirdisch war. Es wird den Menschen nicht beigebracht, dass Flüchtlinge keine Untermenschen sind oder dass es möglich ist, dass andere Leute unter schlechtere Bedingungen leben. Aber ich kann es auch verstehen: manche Leute kommen hierher und bauen Scheiße.

Um uns hier integrieren zu können, müssen wir mehr machen, uns Mühe geben, um uns zu beweisen. Aber das ist nicht richtig. Die Leute aus andere Länder sollten sich nicht beweisen müssen. Man sollte eher sich Zeit nehmen, um diese Leute kennenzulernen und nicht gleich denken, du trägst ein Kopftuch, dann heißt es so und so, zum Beispiel, dass du von deinen Eltern verprügelt wirst und zwölf Geschwistern hast. Es sollte einfach zu verstehen sein, dass nicht alle gleich sind und wenn die Leute nicht so viel Vorurteile hätten, dann wäre es für uns viel, viel einfacher, uns hier zu integrieren.

Mein Vater möchte gern mehr Möglichkeiten bei der Jobsuche haben. Manche sagen, dass er zum Beispiel bei Burger King arbeiten könnte. Aber nein, er hat studiert und er möchte mehr leisten und ein besseren Job haben. Und dass sie nicht so gut Deutsch können, heißt auch nicht, dass sie nicht gut arbeiten können. Aber sie sollten in der Lage sein, zeigen zu können, dass sie nicht so schlecht sind.

Das Gefühl habe ich in der Schule auch: man muss sich beweisen. Und das hat nicht so gut geklappt, da meine Gesundheit nicht so gut ist. Darum habe ich entschieden zurück in die Gesamtschule zu gehen und nicht im Gymnasium zu bleiben. In die Gesamtschule gibt es mehr Ausländer und ich habe mich dort weniger als Außenseiterin gefühlt. Das Schulsystem ist gut aber die Leute wissen nicht, wie sie helfen können. Zum Beispiel habe ich manchmal eine andere Meinung und wenn ich mich melde, schauen sie mich manchmal komisch an. Es könnte sogar ein Fach oder ein Projekt in der Schule geben, wo die Leute lernen könnten, mit verschiedene Meinungen umzugehen.

Wir möchten in Deutschland bleiben. Ich möchte für die Regierung arbeiten, der mich aufgenommen hat.

 

Anmerkung

[1] Muhammed Fethullah Gülen und seine Bewegung betreiben Weltweit, auch in Deutschland, Schule und Universitäten. https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-schulen-in-deutschland-erdogans-kampfansage-an-100.html

2 Replies to “Meryem, Ayaz, und ihre Tochter Esila: Türkei”

  1. Weise Tante says:

    Liebe Esila,du hast allen wirklich gezeigt, wie ein Mädchen Mühe geben kann, sich zu integrieren und sich durchzusetzen. Während wir über dich mit meinem Mann gesprochen haben, habe ich die Nachricht bekommen habe, dass du deine Geschichte verfasst hast.Was für eine Freude! Ich glaube, dass du mehr verdienst und schaffen kannst.Weiter so👏

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  2. Gülmüs says:

    Hallo,
    ich hoffe,dass du diene Träume schnell wie möglich erfüllen kannst, um die Fluchtgeschichte vergessen zu können ( für alle Kinder,die ihre Heimat verlassen mussten)

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