Muslimischen Frauen gilt in der Integrationsdebatte ein besonderes Interesse: sie sind wenig sichtbar, schwer zu erreichen, gelten häufig als „unterdrückt“ und spielen gleichzeitig als Wertevermittlerin an ihre Kinder eine wichtige integrative Rolle. Um sie erreichen, ging Social Science Works neue Wege. Wir verschränkten unseren deliberativen Ansatz mit Methoden der Theaterpädagogik, um die Grenzen der kognitiven Bearbeitung zu überschreiten. Unser Ziel war es, die diskutierten Inhalte auch affektiv erfahrbar zu machen und spielerisch zu kommunizieren, was sonst unausgesprochen geblieben wäre.

Wir trafen uns 12 Mal mit einer Gruppe muslimischer Frauen in einer Gemeinschaftsunterkunft in Potsdam. Die Treffen begannen mit Bewegungsübungen aus der Theaterpädagogik und leiteten dann über zu den Themen Identität, Freiheit, Diskriminierung, Respekt und Gleichberechtigung, die im Gespräch und mittels szenischer Übungen bearbeitet wurden. Neben der Vermittlung von Informationen waren die persönliche Ebene und der Austausch zwischen den Teilnehmerinnen essenziell. Die Workshopleiterinnen brachten sich mit ihren Biografien und Erfahrungen ein. Die Teilnehmerinnen, die sich bei unserem ersten Treffen auch noch nicht alle untereinander mit dem Vornamen kannten, wuchsen im Verlauf des Projektes zu einer festen Gruppe zusammen, die sich auch außerhalb unserer Treffen in der Gemeinschaftsunterkunft gut versteht und austauscht.

Während der ersten Treffen sprachen wir über die Themen Identität und Heimat. Wir füllten Identitätsblumen aus, brachten persönliche Gegenstände mit und malten eine imaginäre Landschaft nach unseren Wünschen. Hierbei gingen wir in die körperliche Aktion wie beim echten großflächigen Malen auf einer Leinwand, tunkten die vorgestellten Pinsel in imaginäre Farbtöpfe. Durch die großen Bewegungen – begleitet von Musik – wurde der freudvolle Prozess unterstützt, eine Landschaft zu erschaffen, welche nach unseren Wünschen Gestalt annimmt. Einige der Frauen reisten dabei zurück nach Hause. Wobei nicht immer klar war, wo sich dieses zu Hause befindet. Wie bei einer Frau aus Palästina, die im Libanon aufgewachsen ist und ihre Heimat deshalb noch nie gesehen hat.

Im anschließenden Gespräch tauschten wir uns darüber aus, was Heimat sein kann – ein Ort, ein Gefühl, bei Menschen, bei der Familie – und stellten fest, dass wir mehrere Heimaten haben können. Wir arbeiteten gemeinsam heraus, was für unsere Identitäten wichtig ist. Neben Familie, den Kindern und der Religion spielten bei allen Frauen auch die Migration nach Deutschland und das Erlernen einer neuen Sprache eine Rolle. Sie waren sich darin einig, dass es einen Kern gibt, der immer gleichbleibt, sich aber manche Aspekte unsere Identität mit der Zeit ändern. Interessant ist immer wieder, dass für viele geflüchtete Frauen die Familie an erster Stelle steht und persönliche Wünsche zunächst nicht geäußert werden. Wir luden sie deshalb ein, über ihre eigenen Wünsche nachzudenken und diese auszusprechen.

Auch mit Hilfe von Übungen zu Körper und Stimme stärkten wir die Selbstwirksamkeit der Teilnehmerinnen. Zu spüren, wie es sich anfühlt, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen und laut und deutlich etwas zu sagen oder auszurufen, macht etwas mit uns. Regelmäßig ausgeführt erweitern diese Übungen unseren Habitus um mehr körperliche Präsenz und Selbstbewusstsein. Allein das schnelle Reagieren innerhalb der Spiele, sowie die Bewegung in den Übungen, erlauben uns keinen Rückzug, sondern fordern schnelle Entscheidungen, welche wir aus dem Bauch heraus treffen. Wir werden aktiv, anstatt passiv zuzusehen.

Beim Thema Freiheit unternahmen wir eine imaginäre Reise zu einem Ort unserer Wahl. Im anschließenden Gespräch sagten die Teilnehmerinnen, dass sie auf ihren Reisen frei waren, weil sie sich frei bewegen konnten und frei entscheiden, was sie tun. Wir fragten, was Freiheit für jede von ihnen bedeutet. Hier kamen sie zunächst auf Sicherheit vor Krieg und Gewalt zu sprechen, dann erst nannten sie Bewegungsfreiheit, die Freiheit, tun zu können, was sie möchten, aber auch die Freiheit, die eigene Sprache zu sprechen, zur Schule gehen zu können, den Beruf zu erlernen, den sie sich wünschen, die Freiheit, die Kleidung selbst auszusuchen, selbst zu entscheiden, wen sie heiraten und wie viele Kinder sie bekommen möchten. Sie nannten also erst Dinge, die sie brauchen, um frei zu sein, und dann die Freiheiten, die ihnen wichtig sind. In einem Workshop mit deutschen Teilnehmenden werden meist eher Bewegungs- und Meinungsfreiheit genannt und darauf hingewiesen, dass unsere Freiheit von Regeln eingeschränkt wird. Die Frage danach, was wir für unsere Freiheit brauchen, kommt eigentlich erst später, wurde von den Frauen aber als erste beantwortet, weil sie wissen, wie es ist, wenn essenzielle Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Dann kamen wir darauf zu sprechen, dass Freiheit vor allem bedeutet, frei entscheiden zu können, und dass dies wiederum Wissen, also Bildung bedarf. Anschließend haben wir Statuen der Freiheit und Unfreiheit gestellt, um körperlich nachzuspüren, wie sich Freiheit und Unfreiheit anfühlen und welche körperlichen Impulse unsere Schritte in die Freiheit begleiten.

Zu den Themen Diskriminierung, Gleichberechtigung und Respekt spielten wir Situationen aus dem Alltag der Frauen nach. Angelehnt an den Ansatz des Forumtheaters[1] besprachen wir genau, worum es in der Situation ging, welche Personen verkörpert werden mussten und verteilten die Rollen. Nach dem ersten Durchlauf wiederholten wir die Szenen, um zu sehen, was verändert werden kann, um mit solch einer Situation besser umgehen zu können. Wir besprachen gemeinsam, welches Ziel die Protagonistin verfolgt und wie es erreicht werden kann. Um Verhaltensweisen und Handlungsmöglichkeiten noch deutlicher zu machen, wurden auch die Rollen getauscht. So befanden sich die Frauen einerseits in der besprochenen Situation, andererseits konnten sie Distanz zur Situation wahren und sich quasi „selbst beobachten“, da sie ja „nur eine Rolle spielten“ und diese auch tauschten. So sahen die Frauen z.B. eine andere Frau in ihrer Rolle, die viel selbstbewusster auf Diskriminierung reagierte. Dies wiederum schaffte neue Impulse dafür, wie sie selbst in einer schwierigen Situation reagieren könnten. Und sie sahen auch, wie ihr Gegenüber auf ihre Veränderung in ihrem Verhalten reagierte, nämlich das diskriminierende Verhalten beendete und sich zurückzog.

Interessant war, dass die Teilnehmerinnen sich nicht von Deutschen diskriminiert fühlen, sondern durch andere Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger in Deutschland leben. Wir spielten z.B. eine Szene nach, die sich in einem Laden einige Monate zuvor zugetragen hatte. Eine Frau mit russischem Akzent hatte eine unserer Teilnehmerinnen beschimpft und dazu aufgefordert, ihr Kopftuch abzunehmen. Während des ersten Durchlaufs der Szene verlies sie mit gesenkten Schultern den Laden und sagte nur: „kein Problem“. Beim letzten Durchlauf sah sie der Frau in die Augen und sagte ihr, dass sie trage was sie wolle.

Zum Thema Gleichberechtigung baten wir die Teilnehmerinnen, den Abend in der Familie nachzuspielen, also das gemeinsame Abendessen und das Zu-Bett-Bringen der Kinder. „Mutter, Vater, Sohn und Tochter“ spielten uns eine typische Szene einer patriarchalisch organisierten Familie vor. Die Mutter machte alles, der Vater bekam sein Essen zuerst und kommandierte alle herum, die Kinder schwiegen. Anschließend erklärten sie uns, dass es so war als sie Kinder waren. In ihren eigenen Familien liefe das jetzt anders ab. Der Mann beteiligt sich an den Arbeiten und bringt auch die Kinder ins Bett. Das sei aber nicht die ganze Zeit so gewesen, sondern wird und wurde hart erkämpft. Die Emigration nach Deutschland sei dafür sehr wichtig gewesen. Hier sind Frauen gleichberechtigt, dies wissen die Frauen und fordern es auch für sich ein. Aber vor allem seien die Mütter ihrer Männer nicht hier, um sie wie eine Angestellte zu benutzen oder zu ihren Söhnen zu sagen, dass es der Respekt vor ihnen, dem Familienoberhaupt, nicht zulasse, dass sie ihrer Frau im Haushalt helfen. In Deutschland leben sie als Kleinfamilie, nicht wie in den Herkunftsländern unter den Augen der Großfamilie, welche die Regeln bestimmt.

Es wurde von den Teilnehmerinnen nicht explizit gesagt, aber die finanzielle Unabhängigkeit dürfte auch eine Rolle spielen. Eine der Frauen sagte zum Beispiel, sie brauche keinen Mann. Wenn er nicht hilft, kann er gehen. Die patriarchalen Strukturen sind mit der Emigration brüchig geworden. Die Männer sind nicht mehr die Alleinernährer der Familie, sondern häufig arbeitslos und orientierungslos. Die Großfamilie ist in vielen Fällen weit weg und kennt keine Antworten auf die Fragen, mit der die Familien in Deutschland konfrontiert sind. Dieses Wegbewegen von den tradierten Geschlechterrollen soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Grundpfeiler der Ungleichbehandlung von Frauen in muslimisch geprägten Gemeinschaften, nämlich die Trennung der Geschlechter, von den Teilnehmerinnen nicht hinterfragt wird. Die Jungen sind mit ihren Vätern unterwegs, sie sitzen nicht dabei, wenn Frauen sich treffen, haben sie uns gesagt. Die Mädchen wiederum bleiben zu Hause. Zwar würden Jungen und Mädchen gleich behandelt und dürften mit den gleichen Spielsachen spielen, aber wenn sie älter seien, also ab der Pubertät, gibt es kaum noch Berührungspunkte.

Die Geschlechtertrennung im Islam ist dazu gedacht, die Grenzen des Respekts und des Anstandes zu gewährleisten, was aufgrund der dadurch vorgenommenen Sexualisierung der Beziehung zwischen den Geschlechtern bereits kritisch gesehen werden kann. Faktisch führt die Trennung dazu, dass nur Männern die öffentliche Sphäre zusteht, dass die Freiheit und die Rechte von Frauen beschnitten werden. In Deutschland, wo Männer und Frauen gemeinsam am öffentlichen Leben teilnehmen, wo Jungen und Mädchen zusammen lernen und wo auch Freundschaften zwischen Frauen und Männer normal sind, ist der Anspruch der Geschlechtertrennung nur schwer umsetzbar. In Folge werden die Frauen noch stärker benachteiligt, da es noch weniger Räume gibt, in denen sie sich bewegen können. Wir haben versucht, hier bei unseren Teilnehmerinnen erste Zweifel zu sähen. Um diese tief verwurzelte und religiös begründete Werteinstellung zu dekonstruieren, braucht es aber mehr als 12 Treffen. Es braucht mehr Möglichkeiten der Teilhabe für muslimische Frauen, die anfangs auch in reinen Frauengruppen stattfinden können. Es braucht offene Moscheegemeinden, Aufklärungsarbeit auch für Männer, stärkere Anreize für muslimische Frauen, um berufstätig zu werden, gemischte Wohnquartiere, um die soziale Kontrolle zu minimieren, sowie gute Bildung und Perspektiven für die nachwachsende Generation.

[1] Boahl, Augusto (1982): „Theater der Unterdrückten“, Suhrkamp Verlag

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