- SSW auf dem Fachtag des Arbeitskreises Migration Westhavelland - Oktober 8, 2024
- Muriel Akkerman, Noelle Wendling, Evelyn Callapino Guarachi, und Eline Sap haben sich unserem Team angeschlossen. - September 11, 2024
- Idir: Algerien - April 25, 2024
Politische Gemeinschaften kommen gelegentlich an Scheidewege, an denen grundlegende, weitreichende Entscheidungen getroffen werden müssen. In solchen Momenten kann die demokratische und inhaltliche Qualität der Entscheidungsfindung verbessert werden, wenn eine signifikante Anzahl von Bürgern zur Teilnahme an dieser Entscheidungsfindung eingeladen wird. Dieser Gedanke soll hier insbesondere anhand der Situation in der ostdeutschen Planstadt Eisenhüttenstadt veranschaulicht werden.
Kurz vor Kriegsende wurde Potsdam von der britischen und amerikanischen Luftwaffe schwer angegriffen, ein Bombardement, das einen wichtigen Teil der Innenstadt zerstörte. Nach dem Krieg füllten die Behörden die Freiflächen mit moderner DDR-Architektur auf. Nach der Wiedervereinigung, 1992, beschloss die Stadtverwaltung, Potsdam wie vor dem Krieg wiederaufzubauen. An dieser Entscheidung waren die Bürger kaum beteiligt. Seither wurden fast alle Gebäude aus der Zeit von 1946 – I989 abgerissen. Bei jedem Abriss fühlten sich viele Potsdamer Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR gedemütigt und erniedrigt: Auch unsere Gebäude sind nicht gut genug. Viele Abbrüche lösten heftige Proteste und Spaltungen in der Bevölkerung aus. Diese erreichen wahrscheinlich ihren Höhepunkt mit dem Wiederaufbau der Garnisonkirche, der Militärkirche, in der Adolf Hitler 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg eingeweiht wurde.[1] Für dieses Projekt muss eines der letzten verbliebenen DDR-Gebäude, das Rechenzentrum, das nun vorübergehend vom Kreativsektor genutzt wird, im Prinzip weichen. Der Widerstand ist allerdings so groß geworden, dass ein sehr kostspieliger Kompromiss unumgänglich erscheint: Die Errichtung des Kirchturms wird zwar abgeschlossen, aber das Schiff wird wohl nicht realisiert werden. Stattdessen wird das Rechenzentrum das Schiff werden. So wird ein typischer DDR-Plattenbau von 1971 einen barocken Kirchturm von 1735 mit 88 Metern Höhe erhalten.[2]
All diese Dissonanz hätte vielleicht verhindert werden können, wenn den Potsdamer Bürgern die Möglichkeit einer sinnvollen Beteiligung an der Entscheidungsfindung geboten worden wäre.[3]
Demokratie
Städte und Gemeinden müssen gelegentlich Entscheidungen treffen, die weitreichende und tiefgreifende Folgen für ihre Einwohner haben. Schon aus demokratischer Sicht sollten die Einwohner eingeladen werden, bei diesen Entscheidungen mitzubestimmen: Menschen, die von bestimmten Entscheidungen direkt betroffen sind, haben das Recht, an dem betreffenden Entscheidungsprozess teilzunehmen. Darüber hinaus könnte die Beteiligung derjenigen, die von Entscheidungen betroffen sind, die Qualität dieser Entscheidungen erheblich verbessern: Gerade diese Menschen verfügen über Wissen und Erfahrungen aus erster Hand über die Lebensbedingungen, die die Entscheidung am ehesten beeinflussen wird. Dieses Wissen und diese Erfahrung sollten erschlossen werden. Außerdem benötigen weitreichende Entscheidungen eine breite gesellschaftliche Unterstützung, um die jeweilige Politik wirksam umzusetzen. Diese Unterstützung kann durch die Einbeziehung der von der Politik betroffenen Gemeinschaften erweitert werden.
Es gibt auch eine allgemeine Motivation, Bürgerinnen und Bürger in die Planung von Projekten in ihrer Nachbarschaft einzubeziehen: Da die Bürgerinnen und Bürger persönlich oder direkt von diesen Projekten betroffen sind, ist die Chance höher, dass sie sich beteiligen. Ihre Erfahrungen mit dieser lokalen Partizipation könnten ihre allgemeinen Ansichten über Demokratie sowie ihre politischen Kompetenzen stark prägen.
Eisenhüttenstadt
Eisenhüttenstadt könnte als eine Stadt auf der Suche nach ihrer Identität betrachtet werden, eine Suche, die große Entscheidungen erfordern könnte. Ohne diese Kardinalentscheidungen könnte Eisenhüttenstadt in Vergessenheit geraten, wie dies bereits bei vielen anderen Städten auf der ganzen Welt geschehen ist. Im Falle Eisenhüttenstadts wäre dies vielleicht noch bedauerlicher, da das Potenzial, das sich aus seiner Geschichte ergibt, viel größer zu sein scheint.
Die Geschichte von Eisenhüttenstadt ist bekannt: in den fünfziger Jahren aus dem Nichts um ein neues Stahlwerkskombinat herum geplant und gebaut, wuchs es schnell von 2400 Einwohnern im Jahr 1953 auf fast 54.000 im Jahr 1989 und ging seitdem stetig auf 23.000 im Jahr 2020 zurück. Dieser Rückgang wird sich unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung von Eisenhüttenstadt fortsetzen. Aufschlussreich sind die Entwicklungen bei den Neugeborenen- und Verstorbenenzahlen. Im Jahr 1970 wurden 813 Neugeborene gezählt (18 pro 1000 Einwohner), eine Zahl, die nach und nach auf 158 im Jahr 2018 zurückgeht (6 pro 1000 Einwohner). Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Verstorbenen von 328 auf 472 (von 7 auf 18 pro 1000 Einwohner).[4] Anfang 2019 gab es in Eisenhüttenstadt mehr Menschen über 75 Jahre als unter 25 Jahre, und etwa die Hälfte der Bevölkerung war älter als 55.[5]
Wie sieht die Zukunft von Eisenhüttenstadt aus? Hat die Stadt eine Zukunft oder nur eine Vergangenheit? Die Stadt war eine Modellstadt, gründlich geplant in allen Lebensbereichen. Braucht die Stadt zusätzlich zu den bereits bestehenden Plänen einen neuen
umfassenden Plan oder sollte sie zuschauen, wie eine Vielzahl kleiner Entscheidungen einzelner Bürgerinnen und Bürger zu einer kollektiven Entscheidung führt? Welchen Beitrag könnte der Durchschnittsbürger bei der Entwicklung eines solchen umfassenden Plans leisten? Wie sehen die Menschen in Eisenhüttenstadt ihre Zukunft? Wie definieren sie ihre “Identität”? Was möchten sie verbessert haben, um das Leben attraktiver zu machen? Was muss geändert werden, um junge Menschen vom Bleiben oder Kommen zu überzeugen? Braucht Eisenhüttenstadt mehr junge Menschen, oder wäre es eine Option, noch mehr Senioren nach Eisenhüttenstadt (zurück) einzuladen und ihnen zu ermöglichen, gemeinsam das Alter zu genießen?
Es scheint, es gibt genug Gesprächsstoff. Um diese Gespräche informativ, demokratisch und produktiv zu gestalten, könnten wir Deliberationen mit einer größeren Zahl von Bürgern organisieren. Diese Deliberationen könnten viele verschiedene Formen annehmen, je nach den Zielen der Deliberation, der Anzahl der Personen, die man gerne teilnehmen sehen würde, der Gründlichkeit ihres Austausches, der Zeitspanne, die für diese Deliberationen benötigt wird, der Anzahl der am Austausch beteiligten Institutionen und den angestrebten Ergebnissen des Prozesses.
Ein Beispiel für eine Deliberation
Nur um die Phantasie anzuregen, werfen wir einen Blick auf eine Deliberation, die 2003 in Philadelphia (USA) stattfand.[6] Diese Stadt hatte keine Tradition der Bürgerbeteiligung an der Stadtplanung, sondern wollte eine Veränderung herbeiführen. Das Thema war, was mit der zentralen Waterfront entlang des Delaware River geschehen sollte. Über einen Zeitraum von insgesamt 50 Tagen führten etwa 800 Bürgerinnen und Bürger einen öffentlichen Dialog, der um vier Treffen herum organisiert wurde.
Beim ersten Treffen präsentierten verschiedene Experten grundlegende Informationen zu den anstehenden Fragen und sorgten so für eine gemeinsame Wissensbasis für die öffentliche Deliberation. Diese Informationen wurden auch in der Zeitung und auf der eigens für das Projekt eingerichteten Website veröffentlicht. Die Lokalzeitung spielte in dem gesamten Prozess eine wichtige Rolle und berichtete kontinuierlich über die Dialoge, die Tagesordnung, die anstehenden Fragen, die Alternativen, die verschiedenen Standpunkte, die Diskussionen und die Schlussfolgerungen.
Das zweite Treffen sollte einige Leitprinzipien für die Entwicklung der Waterfront entwickeln. Die Bürger, die an dem Treffen teilnahmen, wurden nach dem Zufallsprinzip in zehn kleine Gruppen aufgeteilt, die jeweils von einem geschulten Moderator geleitet wurden. Sie diskutierten darüber, wer die Uferpromenade nutzte, wie diese Menschen sie nutzten, was die Nutzung behinderte, wie die Teilnehmer sie am liebsten nutzen würden und nach welchen Prinzipien die Uferpromenade unter Berücksichtigung dieser tatsächlichen und möglichen Nutzungen entwickelt werden sollte. Die Teilnehmer erarbeiteten Prinzipien wie “den Fluss zum Mittelpunkt der Identität von Philadelphia machen”, “ihn leicht erreichbar machen”, “ihn erschwinglich und nachhaltig machen” und “ihn als öffentlichen Raum erhalten”.
Auf der Grundlage dieser Prinzipien und des Expertenbeitrags des ersten Treffens erörterten drei verschiedene Teams aus Architekten, Planern, Ingenieuren, Ökonomen, Künstlern sowie Sozial- und Politikwissenschaftlern bei einem dritten Treffen einen Gestaltungsansatz für die Uferpromenade, der den Prinzipien unterschiedliches Gewicht beimaß. Diese Alternativen wurden auch in der Zeitung und auf der Website veröffentlicht.
Bei der vierten und letzten Sitzung, an der 350 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen, wurden wiederum kleine Gruppen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die Gruppen diskutierten die drei Vorschläge und am Ende bewertete jedes Mitglied jeden Vorschlag. Die kumulativen Bewertungen wurden dann in der Plenarsitzung präsentiert und diskutiert. Eine Umfrage wurde auch von der Zeitung unter ihren Abonnenten durchgeführt. Daran nahmen 5000 Personen teil. Die Endergebnisse des gesamten deliberativen Prozesses flossen in die formelle Entscheidungsfindung ein. Sie weckten auch die Erwartung, dass die Bürger an der Gestaltung des öffentlichen Raums beteiligt werden sollten. Daher folgten nach diesem ersten Experiment regelmäßige öffentliche Deliberationen.
Deliberation in Eisenhüttenstadt
Zurück nach Eisenhüttenstadt. Es gibt keine Uferpromenade, die saniert werden muss. Gleichwohl ist ein vergleichbarer deliberativer Prozess, der Experten und Bürger einbezieht und drängende Fragen zur Zukunft von Eisenhüttenstadt aufgreift, nicht minder sinnvoll. Der Prozess könnte mehr Bürgerinnen und Bürger gesellschaftlich und politisch einbinden, die Politik über die Lebenswelt und die Erwartungen der Durchschnittsbürgerinnen und -bürger informieren, Diskussionen und Politiken über die Zukunft von Eisenhüttenstadt Richtung geben und nicht zuletzt das veraltete Bild von Eisenhüttenstadt als eine Stadt verändern, in der alles von oben nach unten geplant wird, hin zu einer Stadt, in der Ideen und Präferenzen auch in die entgegengesetzte Richtung kommuniziert werden. Eisenhüttenstadt könnte zu einem Modell der Demokratie werden.
Für den Fall, dass eine Deliberation über die Zukunft von Eisenhüttenstadt organisiert werden würde, müssen zunächst einige Fragen beantwortet werden: Welches ist genau das Problem, über das wir mit den Bürgern sprechen wollen? Wie viele und welche Art von Bürgerinnen und Bürgern möchten wir wie lange an den Gesprächen teilnehmen und wie werden diese Bürgerinnen und Bürger zur Teilnahme motiviert? Wie wird dem Inhalt der Diskussionen Substanz verliehen (offene Tagesordnung oder von Experten informierte Alternativen)? Welche Art von Ergebnis wird angestrebt: eine Entscheidung oder ein Ratschlag (für wen)? Wie konkret soll das Ergebnis sein (eine Abstimmung über mehrere Alternativen, ein Überblick über die Anliegen)? Welche Partner stehen für den Aufbau und die Durchführung der Deliberation zur Verfügung (Nachrichtenmedien, Interessengruppen, zivilgesellschaftliche Organisationen)?
Diese Fragen zeigen bereits, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, die Bürgerbeteiligung an Entscheidungen zu gestalten. Welche Form der Beteiligung am besten geeignet ist, hängt von dem jeweiligen Problem oder Thema sowie von den lokalen Bedingungen und Möglichkeiten ab. Es gibt keine eindeutigen Antworten, genauso wenig wie es eine endgültige, universelle, unveränderliche Definition von Demokratie gibt. Klar scheint jedoch, dass die Zeit reif ist, neue Formen der Demokratie auszuprobieren. Was haben die Einwohner und Behörden von Eisenhüttenstadt eigentlich zu verlieren?
Anmerkungen
[1] Düker, Ronald. 2020. Genau wie früher. Die Zeit. Nr. 47, 12 November 2020.
[2] Libeskind in Potsdam: wie es zu der Offerte des Star-Architekten kam. Märkische Allgemeine Zeitung. 24 Juni 2020.
[3] Bautz, Philipp. 2019. Bürgerbeteiligung und Deliberation im lokalen Kontext: Streit um den Abriss der Fachhochschule Potsdam. https://socialscienceworks.org/buergerbeteiligung-und-deliberation-im-lokalen-kontext-streit-um-den-abriss-der-fachhochschule-potsdam/
[4] Stadtverwaltung Eisenhüttenstadt. Statistischer Kurzbericht2/2019. Die natürliche Bevölkerungsbewegung der Stadt Eisenhüttenstadt 2018. P.4
[5] Stadtverwaltung Eisenhüttenstadt. Statistischer Kurzbericht1/2019. Die Bevölkerung der Stadt Eisenhüttenstadt 2018. P.3
[6] Sokoloff, Harris, M. Steinberg and Steven N. Pyser. 2005. Deliberative city planning on the Philadelphia waterfront. In: John Gastil and Peter Levine (eds). 2005. The Deliberative Democracy Handbook. San Francisco: Jossey-Bass. Pp.185- 196.