Als wir (Isabel Romijnders und Hans Blokland) Ali interviewten, merkten wir sofort, dass er sehr interessiert daran war, seine Geschichte zu erzählen. Nachdem wir mehr als eine Stunde mit ihm und seinem Mitbewohner gesprochen hatten, luden wir sie ein, sich erneut mit uns zu treffen, da sie noch mehr zu erzählen hatten. Ein paar Tage später erhielten wir eine herzliche E-Mail von Ali. Er hatte sich die Freiheit genommen, seine Geschichte selbst zu schreiben, in seinen eigenen Worten, um seine persönlichen Erfahrungen und Gefühle zu beschreiben. Was folgt, ist die Geschichte von Ali, die wir nur leicht überarbeitet haben. 

Teil 1 – Afghanistan

Unter Migration versteht man die Bewegung von Menschen von einem Ort zu einem anderen, um dort zu arbeiten oder zu leben. In der Regel wandern Menschen aus, um ungünstigen Umständen oder Faktoren wie Armut, Krankheit, politischen Problemen, Nahrungsmittelknappheit, Naturkatastrophen, Krieg, Arbeitslosigkeit und mangelnder Sicherheit zu entkommen. Der zweite Grund können günstigere Bedingungen und Faktoren sein, die das Ziel [Land] anziehend für eine Migration machen, wie z. B. bessere Gesundheitseinrichtungen, bessere Bildung, höheres Einkommen, bessere Unterkünfte und größere politische Freiheiten.

Wer nicht die Erfahrung gemacht hat, auszuwandern und sein Heimatland zu verlassen, kann die persönlichen Gefühle, das Leid und den Schmerz eines Einwanderers nie wirklich verstehen. Aber für mich, der auf eine bessere Zukunft in seinem Heimatland gehofft und sich darum bemüht hatte, war der Schmerz über den Verlust der Hoffnung und der Träume in meinem Land sehr schmerzhaft. Ich hatte mir viele Jahre lang eine Zukunft in Afghanistan aufgebaut. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages meine Heimat und meinen Arbeitsplatz verlassen, mein Leben verlieren und ein Geflüchteter in einem anderen Land werden würde.

In Afghanistan war ich durch meine Arbeit in den Medien, in der Informationstechnologie sowie durch soziale, kulturelle und politische Aktivitäten in der Zivilgesellschaft mehr als ein Jahrzehnt lang bekannt. Allerdings stand ich ernsten Sicherheitsproblemen gegenüber, vor allem als ich beim größten Fernsehsender Tolo TV arbeitete, einem Unterhaltungssender für die Menschen in Afghanistan. Die wichtigsten Bestandteile der Sendungen dieses Senders waren internationale Fernsehserien, afghanische und ausländische Musik, Unterhaltungsprogramme für Jugendliche und andere soziale und kulturelle Aktivitäten.

Fernsehsender, die Unterhaltungsprogramme ausstrahlen, sorgten für Ärger mit den extremistischen Islamisten (Taliban). Sie terrorisierten die Mitarbeiter von Tolo TV mit Morddrohungen und griffen mehrmals einige Mitarbeiter unseres Fernsehsenders an und töteten sie. Ende 2015, als die Terroranschläge der Taliban und des ISIS in Afghanistan, insbesondere in Kabul, zunahmen, beschloss ich, Afghanistan zu verlassen. Vielleicht werde ich die schöne Stadt Kabul nie wieder sehen und nur die Erinnerungen aus der Ferne mitnehmen können. Ich denke an das Leben, das ich in Kabul hatte, und manchmal weine ich in meinen einsamen Momenten, weil ich weit weg von zu Hause bin.

Zunächst ging ich nach Islamabad, Pakistan, um ein Studentenvisum für die Ukraine zu beantragen. Nachdem ich das Visum über die Botschaft der Republik Ukraine erhalten hatte, kehrte ich nach Kabul zurück. Ich bereitete meine Reisesachen vor und kaufte ein Flugticket. Mein Flug ging vom internationalen Flughafen Kabul nach Dubai (mit einem etwa 11-stündigen Transitaufenthalt am internationalen Flughafen Dubai) und dann nach Odessa in der Ukraine.

Teil 2 – Ukraine

Am 9. Februar 2016 kam ich in Odessa, Ukraine, an. Es war sehr kalt. Als ich aus dem Flugzeug stieg, fühlte ich mich seltsam. Es war, als ob ich in eine neue Welt gereist wäre. Neue Menschen mit heller Hautfarbe, blauen Augen und blondem Haar. Und vor allem die ukrainische Sprache, die für mich völlig neu und ungewohnt war.

Nach ein paar Tagen kam ich an die Nationale Polytechnische Universität Odessa, um Informatik zu studieren. Es gab viele Studenten, darunter Ukrainer, Afghanen, Araber, Türken, Inder, Afrikaner usw.. Wir hatten sehr gute Dozenten. Sie bemühten sich sehr darum, dass die ausländischen Studenten die Sprache gut lernten, damit sie an der Universität erfolgreich sein konnten. Ich arbeitete hart, und nach drei Jahren schloss ich die Polytechnische Universität ab.  Und ich hatte zwei weitere Sprachen gelernt (Russisch und Ukrainisch).

Odessa ist eine multikulturelle Stadt. Ukrainer, Russen, Afghanen, Türken, Inder, Pakistaner, Iraner und Menschen aus vielen anderen Ländern leben dort zusammen. Die Multinationalität von Odessa macht die Stadt schön und wohlhabend. Ich habe dort ukrainische Freunde gefunden. Sie waren sehr enthusiastisch, über Afghanistan und die Länder der Region zu sprechen und etwas über die guten Dinge dort zu erfahren.

Auch wenn ich meine Heimat in Afghanistan vermisste, war ich in der Ukraine sehr glücklich. Ich hatte ein kleines Online-Unternehmen gegründet. Meine Tätigkeiten lagen in den Bereichen Grafikdesign, Erstellung von Unternehmenswebsites, Einrichtung von Online-Shops, Online-Werbung und Beratung.

Ich lebte mein Leben in der Ukraine, bis der brutale russische Angriff auf die Ukraine begann. Am 24. Februar wachte ich gegen 5 Uhr morgens durch laute Explosionen auf, die von russischen Raketen verursacht wurden. Ich ging auf den Balkon und sah aus dem Fenster dichten schwarzen Rauch, der aus mehreren Stellen kam. Ich war sehr erschrocken. Ich eilte zurück ins Haus und griff nach meinem Handy, um die Nachrichten zu lesen. Nach wenigen Augenblicken war der russische Angriff auf die Ukraine in den Schlagzeilen der nationalen und internationalen Medien.

An diesem Tag war ich so verängstigt, dass ich vielleicht mehr als zwei Schachteln Zigaretten geraucht habe. Der Stress und die Angst, die sich in mir aufgebaut hatten, als ich aus Afghanistan floh, verschonten mich nicht. Ich hatte überhaupt keinen Appetit auf essen. Der brutale Angriff eines zivilisierten Landes auf ein befreundetes und benachbartes Land war für mich völlig unwahrscheinlich und unlogisch. Das Vorgehen der russischen Führung war völlige Dummheit.

Meine Mutter rief jede Stunde an. Sie fragte nach meiner Gesundheit und der aktuellen Kriegssituation. Ich versicherte ihr immer, dass die Situation gut und ich an einem sicheren Ort sei. Sie lebt jetzt seit drei Jahren als Einwanderin in der Republik Tadschikistan. Sie hat sich Sorgen um mich gemacht, und ich habe mir Sorgen um sie und ihre Gesundheit gemacht. Der Krieg tut weh – dieser verdammte Krieg verletzt den Geist meiner Mutter und macht sie meinetwegen krank.

Ich kontaktierte einige meiner ukrainischen und afghanischen Freunde, die in der gleichen Stadt lebten. Wir beschlossen, uns zu treffen und zu besprechen, ob wir bleiben oder aufs Land gehen sollten. Ich fuhr in ein Dorf in der Nähe von Odessa und übernachtete bei einem ukrainischen Freund von mir. Aber nach ein paar Tagen beschloss ich, in meine Stadt zurückzukehren und mein Zuhause zu besuchen. Alles war an seinem Platz. Das Einzige, was nicht mehr da war, war mein Lächeln. Meine Freunde brachten mich immer zum Lächeln, aber ich konnte es nicht mehr. In meiner Wohnung herrschte keine Freude.

Nachts, wenn die Gefahrensirenen ertönten, mussten sich alle in die unterirdischen Schutzräume begeben. Wir mussten dort bleiben, bis der Alarm erlosch. Wenn russische Drohnen vom ukrainischen Radar- und Verteidigungssystem über der Stadt gesichtet wurden, ertönten in der Regel in der ganzen Stadt die Alarmsirenen.

Ich habe lange im Internet gesucht, in welches Land ich, noch einmal, fliehen könnte und welches Land eine hoffnungsvolle Zukunft für Migranten hätte. Ich beschloss, die Ukraine zu verlassen und nach Europa zu reisen. Mein endgültiges Ziel war Deutschland.

Ich war auf der Suche nach einem Transportmittel, um die Ukraine zu verlassen. Aber wegen des Krieges waren alle Züge und Busse für die Evakuierung von Frauen, Kindern, älteren und kranken Menschen reserviert. Es war nicht möglich, mit Zügen und Bussen zu reisen. Einige meiner Freunde verließen die Ukraine mit ihren Familien, und es war mir nicht möglich, mit ihnen zu reisen. In der Zwischenzeit rief mich einer meiner Nachbarn, der Taxifahrer war, an und sagte, er wolle mit seiner Tochter zur polnischen Grenze fahren. Seine Tochter wollte nach Polen fahren und er würde nach Odessa zurückkehren. Er sagte, wenn ich wolle, könne ich mit ihm und seiner Tochter mitfahren, da der Rücksitz des Wagens völlig leer sei. Ich akzeptierte das als eine Gelegenheit, dem Krieg zu entkommen.

Am Sonntag um 8 Uhr verließen wir Odessa. Es gab viele Autos und Busse, da die Menschen versuchten, die europäischen Grenzen zu erreichen. Die Verkehrsstaus und Sicherheitskontrollen waren sehr langweilig. Wir fuhren fast 23 Stunden lang mit dem Auto, bis wir die polnische Grenze erreichten. Die ukrainischen und polnischen Grenzbeamten gingen sehr gut mit den Menschen um und arbeiteten mit allen zusammen. In der Nähe der Grenze gab es eine Flut von Migranten. Es war vielleicht die größte Migrantenflut der Welt in den letzten Jahrzehnten. Russland und seine Führer tragen die Schuld an diesem Elend und der Vertreibung. Sie werden sicherlich für diesen barbarischen Akt bezahlen, denn jede Aktion hat eine Reaktion zur Folge.

Bei meiner Einreise nach Polen hatte ich zum ersten Mal Kontakt zu meiner Mutter und erzählte ihr, dass ich sicher in Polen und in der Europäischen Union angekommen war. Sie war sehr glücklich über diese Nachricht. Sie sagte, sie habe für mich gebetet, dass ich mein Ziel sicher erreichen würde. Ich bin wirklich froh über die Unterstützung meiner lieben Mutter. Ich bete, dass sie immer gesund bleibt und immer ein Lächeln auf dem Gesicht hat.

In der Grenzstadt, in der ich nach Polen eingereist bin, haben die Einwanderungsbeamten jeden begleitet. Sie gaben allen Pakete mit Lebensmitteln und heißen Getränken wie Tee und Kaffee. Es gab kostenlose Busse, die die Geflüchteten zum Bahnhof brachten. Nachdem ich das Lebensmittelpaket erhalten hatte, stieg ich in den Bus und fuhr zum Bahnhof. Am Bahnhof halfen Polizei und Hilfsorganisationen den Menschen, in den Zug zu steigen und in andere Städte ihrer Wahl in Polen zu reisen. Ich stieg in den Zug und reiste nach Warschau. Am Warschauer Bahnhof gab es viele Geflüchtete aus der Ukraine, und die meisten von ihnen warteten auf die nächsten Züge nach Deutschland. Auch ich erhielt mit Hilfe von Sozialarbeitern ein kostenloses Zugticket von Warschau nach Berlin.

Es ist wichtig, daran zu denken, dass Polen ein Nachbarland der Ukraine ist, aber das gilt auch für Russland. Was das Mitgefühl zwischen diesen beiden Nachbarländern angeht, gibt es viele Unterschiede. Russland hat mit brutalen Angriffen in der Ukraine eine große Anzahl des Militärs und der Zivilisten getötet. Sie haben die Infrastrukturen und ganze Städte zerstört. Polen hingegen ist barmherzig und human und hat die ukrainischen Geflüchteten freundlich aufgenommen. Sie gaben ihnen Nahrung und Unterkunft in ihrem Land und umarmten sie liebevoll und herzlich. Hier spüren wir den Unterschied von Freundschaft und Nachbarschaft.

Teil 3 – Deutschland

Endlich bin ich in Deutschland angekommen, dem Land der Wissenschaft und des Wissens, dem Land der Menschlichkeit und der Liebe. Als ich am Berliner Hauptbahnhof ankam, sah ich, dass die Polizei, Wohlfahrtsverbände, Sozialarbeiter und Menschen die Ankunft der ukrainischen Geflüchteten mit so viel Freundlichkeit und Lächeln begrüßten. Hinter dem Berliner Hauptbahnhof war ein großes Zelt aufgebaut, in dem die neuen Einwanderer empfangen und mit Essen, Wasser und Tee versorgt wurden. Kostenlose SIM-Karten mit kostenlosen Anrufen in die Ukraine und Hochgeschwindigkeitsinternet wurden von Telekommunikationsunternehmen am Bahnhof an die ukrainischen Einwanderer verteilt. All diese Freundlichkeit und der Empfang der Einwanderer waren sehr schön, und es war ein interessanter und spektakulärer Moment für mich.

Ich wartete auf meinen Freund, der in Berlin lebt und mich zu seiner Wohnung bringen sollte. Während ich auf ihn wartete, ging ich durch den Berliner Hauptbahnhof. Es ist ein großer und schöner Ort mit gut ausgestatteten Einrichtungen. Ich spürte die Unterschiede. Ich fragte mich, warum wir in Afghanistan trotz Milliarden von Dollar an internationaler Hilfe nicht über solche Einrichtungen verfügen. Warum haben wir keinen solchen Bahnhof? Warum haben wir in Afghanistan überhaupt keine Stadtbahnen? Der Grund für die Unterentwicklung Afghanistans sind die Regierungschefs. Sie sind immer auf ihre eigenen Interessen fixiert und nicht auf die Entwicklung des Landes.

Ich hatte viele Fragen in meinem Kopf. Gleichzeitig dachte ich über die Güte und Freundlichkeit der deutschen Menschen nach. Wenn ich eine Frage hatte oder mich über etwas informieren wollte, fragte ich die Deutschen in englischer Sprache, und sie antworteten mit einem schönen Lächeln und einem fröhlichen Gesicht. Sie fragten oft, woher ich komme. Ich erzählte ihnen, dass ich ursprünglich aus Afghanistan stamme, aber sechs Jahre lang in der Ukraine gelebt habe und nach Kriegsbeginn nach Deutschland kam. Sie begrüßten mich und wir unterhielten uns ein wenig. Nachdem mein Freund mich besucht hatte, gingen wir in seine Wohnung. Ich duschte, wir aßen und ich ruhte mich aus, weil ich seit über 48 Stunden nicht mehr richtig geschlafen hatte.

Nachdem ich zwei Tage in Berlin verbracht hatte, wollte ich in andere Städte in Deutschland reisen, da die Züge und öffentlichen Verkehrsmittel für Geflüchtete aus der Ukraine kostenlos waren. Ich habe davon profitiert und bin allein in mehrere Städte in Deutschland gereist. Sehr schöne Städte, sehr angenehmes Wetter und freundliche Menschen. Hier fand ich Menschen und eine Gesellschaft mit zivilisierten Gedanken.

Nach etwa drei Wochen, in denen ich mehrere Städte in Deutschland bereiste und einige Freunde traf, mit denen ich natürlich viel Spaß hatte und die mir halfen, meinen Stress abzubauen, beschloss ich schließlich, zur Ausländerbehörde zu gehen und Asyl zu beantragen. Ich wählte das Land Brandenburg. Dreieinhalb Monate lang war ich in einem Geflüchtetenlager in Eisenhüttenstadt. Dort hatte ich eine tolle Zeit, ich lernte neue Leute kennen und fand neue Freunde. Danach beschloss die Ausländerbehörde, mich nach Frankfurt (Oder) zu verlegen. Ich war einen Monat lang im Lager Markendorf. Danach wurde ich in ein drittes Geflüchtetenlager in Wünsdorf verlegt, wo ich zwei Monate verbrachte. Danach wurde ich in das Lager verlegt, in dem ich jetzt lebe.

Im Moment lerne ich die deutsche Sprache zu Hause. Ich habe mich für den Sprachkurs angemeldet. Im Moment warte ich auf die Erlaubnis der Regierung, die Sprache zu lernen. In Zukunft möchte ich mein Studium an einer der Universitäten in Berlin oder Potsdam fortsetzen, damit ich mein Wissen gut einsetzen und der Gesellschaft, in der ich lebe, dienen kann.

Aus dem Englischen übersetzt von Kim Blokland

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