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Ende 2024 lebten in Deutschland rund 3,5 Millionen Flüchtlinge, darunter 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine. Etwa 20 % dieser Menschen, also rund 700.000 Personen, waren in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Hier leben durchschnittlich um die 200 Menschen zusammen und teilen sich Küchen, Toiletten und Badezimmer. Obwohl viele dieser Unterkünfte als „Übergangswohnheime” bezeichnet werden, leben Flüchtlinge und ihre Kinder regelmäßig länger als fünf Jahre in diesen Verhältnissen, was ihre psychische und physische Gesundheit und damit ihre Integration stark belastet (siehe Blokland 2024: Teil II). Ein sehr großer Teil dieser Unterkünfte wird von privaten (gewinnorientierten oder gemeinnützigen) Einrichtungen betrieben. Schätzungen zufolge sind in Deutschland mehr als 200 große und kleinere Betreiber tätig. Die Serco Group (ein britisches kommerzielles Unternehmen) betreibt beispielsweise 130 Unterkünfte mit 55.000 Bewohnern. Das Deutsche Rote Kreuz verwaltet derzeit vermutlich zwischen 200 und 400 Unterkünfte. Weitere in diesem Bereich tätige Einrichtungen sind unter anderem die AWO, IB, Diakonie, PeWoBE, Living Quarter, ProShelter und Campanet. In Brandenburg sind zwischen 20 und 40 Organisationen tätig. Die Daten sind immer Schätzungen, da es weder auf öffentlicher noch auf privater Seite Transparenz gibt und der Markt stark in Bewegung ist, sodass ständig Unternehmen kommen und gehen. Nicht nur werden Unternehmen gegründet, fusioniert und aufgelöst, auch die Verträge zur Verwaltung von Unterkünften sind immer relativ kurzfristig, in der Regel zwei bis drei Jahre. Dies lässt vermuten, dass es sich um einen Markt handelt, auf dem Unternehmen miteinander konkurrieren und so das bestmögliche Produkt liefern. Diese vermeintliche Marktwirtschaft ist jedoch nur Schein.
Auch unter vielen Fachleuten, die in der Integrationsarbeit tätig sind, herrscht große Unzufriedenheit mit dem bestehenden Ausschreibungssystem.
Ausschreibungen
In der Regel gibt es in diesem System drei Parteien. Erstens eine Kreisverwaltung, die in, zum Beispiel, Teltow-Fläming (Brandenburg) alle zwei Jahre ein Übergangswohnheim ausschreibt. In dieser Ausschreibung wird ein zweijähriger Maßnahmenplan gefordert, bei dem die Kosten im Vordergrund stehen. Zweitens eine Organisation wie das Deutsche Rote Kreuz, der Internationale Bund oder die Living Quarter GmbH, die sich dafür bewirbt und anbietet, das Wohnheim während der Vertragslaufzeit zu betreiben. Und drittens eine Einrichtung, die Eigentümerin der betreffenden Immobilie ist und diese an die zweite Partei vermietet. Es könnte sich um dieselbe Kreisverwaltung handeln. Dieses System hat mehrere Probleme.
Zunächst einmal ist die Vertragslaufzeit so kurz, dass es wenig Sinn macht, in die Bewohner und das soziale Umfeld der Unterkunft (ehrenamtliche und zivilgesellschaftliche Organisationen, kommunale Einrichtungen, Unternehmen) zu investieren. Denn wenn man den Vertrag verliert, sind all diese Investitionen weitgehend umsonst. Dies ist eine der Erklärungen dafür, dass Sozialarbeiter oft kaum wissen, wer in ihrer Unterkunft lebt und welche Hintergründe, Fähigkeiten und Bedürfnisse die Betroffenen haben (siehe Blokland 2024: Teil III). Außerdem scheint es sich bei den Einrichtungen zumeist um Raumschiffe vom Mars zu handeln, die zufällig irgendwo gelandet sind und im jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld weitgehend isoliert sind. Es lohnt sich nicht, Zeit, Energie und Geld in Beziehungen zu den in dem Gebiet ansässigen bürgerlichen, privaten und öffentlichen Organisationen zu investieren, Investierungen die jedoch die Integration der Bewohner erheblich verbessern könnten
Zweitens sind immer mehr Anbieter auf den Markt gekommen, die offenbar hauptsächlich von kommerziellen Motiven geleitet werden und keinen Hintergrund und keine Erfahrung in der Sozialarbeit haben. Zum Beispiel, eines der größten Unternehmen in diesem Bereich ist das Familienunternehmen European Homecare (https://www.eu-homecare.com/de/), das rund 120 Flüchtlingszentren betreibt und etwa 2200 Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen war einer der größten Gewinner der Flüchtlingskrise. Im Jahr 2016 erwirtschaftete es einen Umsatz von 277 Millionen (gegenüber 39 Millionen im Jahr 2014) und einen Gewinn von 32 Millionen.[1] Seit 2022 ist das Unternehmen Teil der Organisation for Refugees Services (ORS Group) mit Sitz in Zürich. Das Unternehmen ist in vier Ländern tätig: Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die ORS Group ist wiederum Teil der SERCO Group aus Großbritannien.[2]
Die beteiligten kommerziellen Organisationen mögen kurzfristig billiger sein, aber die angebotene Qualität ist geringer, auch weil sie nicht stark von Wissen, Erfahrungen, Ideen, Werten und Idealen in diesem Bereich geleitet werden. Längerfristig führt dies zu höheren gesellschaftlichen Kosten. Je schlechter und länger der Integrationsprozess, desto teurer. Diese Kosten, die erst langfristig sichtbar werden, trägt jedoch die Gesellschaft.
Markt und Qualität
Theoretisch könnte das Vorhandensein mehrerer Parteien, die auf einem offenen Markt miteinander konkurrieren, zu einer höheren Dienstleistungsqualität führen. Denn die Marktteilnehmer könnten sich durch ihre eigenen Ideen und Strategien zur Unterbringung und Integration von Flüchtlingen voneinander unterscheiden. Diese abweichenden Vorstellungen und Strategien könnten zu Unterschieden in der Lebensqualität in betreuten Unterkünften und im Erfolg der Integration führen.
Zur Beurteilung der Qualität oder des Erfolgs der Arbeit in Flüchtlingszentren können verschiedene Indikatoren herangezogen werden. Natürlich sind die kurzfristigen finanziellen Kosten von Bedeutung. Was kostet es, eine Person ein Jahr lang in einem Flüchtlingsheim unterzubringen und von Sozialarbeitern und Sicherheitspersonal betreuen zu lassen? Um jedoch die langfristigen Kosten ermitteln zu können, müssen auch andere Indikatoren berücksichtigt werden. Dabei kann man beispielsweise an folgende Indikatoren oder Parameter denken:
- die Dauer des Aufenthalts in der Unterkunft;
- die Anzahl der Personen, die arbeiten, Deutschkurse besuchen, eine Berufsausbildung absolvieren;
- die Deutschkenntnisse, die Bewohner mit unterschiedlichem Hintergrund nach ein, zwei oder drei Jahren erworben haben;
- der Grad der Teilnahme der Bewohner am gesellschaftlichen Leben außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte, beispielsweise ausgedrückt durch ihre Beteiligung an ehrenamtlichen Tätigkeiten;
- der Grad der Teilnahme der Bewohner am Leben in den Unterkünften (und an dessen Organisation);
- der Prozentsatz der Kinder, die eine Kindertagesstätte besuchen, die erfolgreich die weiterführende Schule abschließen;
- die Bewertung der Bewohner hinsichtlich ihrer Lebensumstände in den Unterkünften;
- der Prozentsatz der Bewohner, die in eine andere Unterkunft umziehen möchten;
- die Anzahl der Menschen, die unter psychischen und physischen Beschwerden leiden; und so weiter.
Es werden jedoch keine Daten über all diese und andere mögliche Indikatoren erhoben. Dies geschieht weder durch die zuständigen Behörden noch durch die Organisationen, die die Unterkünfte für längere, meist kürzere Zeit verwalten. Der einzige Indikator, über den man verfügt, sind die finanziellen Kosten, und diese nur kurzfristig.
Die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften werden also nicht nach ihren Ergebnissen beurteilt. Es wird nicht einmal überprüft, ob sie die Pläne, die sie in ihren Projektanträgen vorlegen, auch tatsächlich umsetzen. Auf ihren Websites finden sich hochtrabende Texte darüber, wie gut sie sich um ihre Bewohner kümmern.[3] In keiner Weise wird jedoch gemessen, inwieweit diese Texte der Realität entsprechen. Es geht nur um das billigste Angebot, und um Kosten zu sparen, werden laut Aussagen immer mehr Bewohner immer weniger Dienstleistungen in den Unterkünften angeboten: Es gibt immer weniger Personal, das immer seltener anwesend und auch immer weniger qualifiziert ist. Dies verursacht natürlich langfristig höhere Kosten, aber bis diese sichtbar werden, sind die Betreiber und die verantwortlichen Politiker längst von der Bildfläche verschwunden.
Infolgedessen gibt es keinen wirklich funktionierenden Markt und somit auch kaum Qualitätsgarantien.
Die gezielte Gestaltung eines Marktes
Wenn es keinen funktionierenden Markt gibt, der die Anbieter dazu zwingt, qualitativ hochwertige Produkte zu liefern, sollte der Staat eingreifen. Schließlich ist er der einzige verbliebene Akteur, der dazu in der Lage ist. Denn die direkten Konsumenten der Produkte, nämlich die Flüchtlinge, die in einem normalen Markt die Möglichkeit hätten, zu anderen Anbietern zu wechseln, haben keine Wahl: Es wird für sie von oben entschieden (BAMF, Ausländerbehörden, Jobcenter), wo sie sich aufhalten sollen.
Verantwortung bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Flüchtlingsunterkünfte durch öffentliche Behörden verwaltet werden, auch wenn wenig dagegenspricht. Immerhin sind die Gefängnisse in Deutschland, anders als in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich, ebenfalls staatlich organisiert. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die Gefängnisse in den Vereinigten Staaten besser funktionieren als die in Deutschland. Öffentliche Einrichtungen werden politisch kontrolliert. Kommerzielle Organisationen, die von der Politik unabhängig sind und in einem nicht funktionierenden oder existierenden „Markt“ arbeiten, werden von niemandem kontrolliert.
Wenn man sich dennoch dafür entscheidet, öffentliche Dienstleistungen von privaten Anbietern erbringen zu lassen, muss der Staat einen Markt schaffen, auf dem mit Parametern konkurriert wird, die wirklich von Bedeutung sind. Beispiele für solche Parameter habe ich oben genannt. Um diesen Wettbewerb zu ermöglichen, müssen wiederum Daten erhoben werden, die mit diesen Parametern in Zusammenhang stehen. Wie lange leben Menschen durchschnittlich in einem Heim? Auf welchem Sprachniveau befinden sie sich nach drei Jahren? Wie viele Menschen arbeiten oder gehen zur Schule? Et cetera. Wenn man Antworten auf diese Fragen hat, kann man die Produkte der verschiedenen Anbieter qualitativ bewerten. Man kann die beteiligten Organisationen für ihre Produkte zur Rechenschaft ziehen. Es kann ein echter Markt mit dem dazugehörigen Wettbewerb entstehen. Dieser Markt muss jedoch bewusst von dem Akteur gestaltet werden, der jederzeit auch für das Endergebnis verantwortlich bleibt: der demokratisch kontrollierten Staat.
Bei all dem dürfen Ausschreibungen und Bewertungen also nicht in erster Linie von kurzfristigen Kostenüberlegungen bestimmt werden. Erstens, weil die Werte und Ideale, die der Aufnahme von Flüchtlingen zugrunde liegen, nicht nur in Euro ausgedrückt werden können. Und zweitens, weil Integration ein sehr langwieriger Prozess ist, in dem zahlreiche Parameter eine Rolle spielen. Die Verwirklichung des Integrationsziels erfordert langfristige Investitionen. Diese notwendigen Investitionen geraten aus dem Blickfeld, wenn Organisationen ausschließlich anhand ihrer unmittelbaren Kosten bewertet werden.
Anmerkungen
[1] https://www.stern.de/wirtschaft/news/fluechtlingsheime–umstrittener-betreiber-macht-millionengewinn-7925040.html
[2] https://www.eu-homecare.com/de/betreuungsdienstleister-ors-und-european-homecare-wollen-sich-kuenftig-gemeinsam-als-markt-und-qualitaetsfuehrer-praesentieren/
[3] Living Quarter meldet: “Im dynamischen Zentrum unseres Unternehmens erwacht ein Herz, angetrieben von tief verwurzelten und fundamentalen Werten. Es ist ein sorgfältig gefertigtes Netzwerk, das von jedem Teammitglied in jedem bedeutenden Moment unserer interaktiven Zusammenarbeit bewusst und mit Professionalität gestaltet wird… Bei Living Quarter stehen Innovation und Qualität im Mittelpunkt unserer Arbeit. Als Expert:innen im sozialen Dienstleistungssektor und Facility Management setzen wir auf fortschrittliche Technologien und digitale Lösungen. Unser Team, geprägt durch starke Werte wie Vertrauen und Zuverlässigkeit, arbeitet täglich daran, den sozialen Sektor neu zu gestalten. Durch unsere Expansion bieten wir hochqualifizierte Dienstleistungen in verschiedenen Bundesländern und Landkreisen an, immer mit dem Ziel, Sicherheit, Komfort und Gemeinschaft in unserer Gesellschaft zu stärken.“ ( https://www.livingquarter.de/) Siehe auch: https://www.eu-homecare.com/de/dienstleistungen/wie-und-was-leisten-wir/.